Rezensionen

Persönliche Lesetipps unserer Buchhändler:innen

Das Mädchen, das in den Wellen verschwand

Axie Oh

Testleserin MONA, Tyrolia-Filiale Innsbruck (14 Jahre, Mieming) Jedes Jahr wird in Minas Heimatstadt ein Mädchen geopfert, um die furchtbaren Stürme in der Stadt zu stoppen. Denn der Legende nach wird irgendwann die wahre Braut des Meeresgottes au... Mehr lesen

Tyrolia Testleser:in aus unserer Tyrolia-Filiale in Innsbruck

Das Leuchten der Rentiere

Ann-Helén Laestadius

Maxie Bantleon aus unserer Tyrolia-Filiale in Innsbruck

Das Leuchten der Rentiere

Ann-Helén Laestadius

Maxie Bantleon aus unserer Tyrolia-Filiale in Innsbruck

Florence Butterfield und die Nachtschwalbe

Susan Fletcher

Maxie Bantleon aus unserer Tyrolia-Filiale in Innsbruck

Die Zeit der Verluste

Daniel Schreiber

Katja Hölzl aus unserer Tyrolia-Filiale in Innsbruck

Das Buch der Königin

Sabine Weigand

Konstanze von Sizilien heiratet den Stauffer Heinrich VI, Sohn von Friedrich Barbarossa. Sie ist 10 Jahre älter und für die damalige Zeit eigentlich zu alt, um ihrem Gatten einen Thronfolger zu schenken. Ihre Beziehung zu Heinrich ist schwierig. Er... Mehr lesen

Karin Pfeiffer aus unserer Tyrolia-Filiale in Salzburg

Die Töchter des Bärenjägers

Anneli Jordahl

Maxie Bantleon aus unserer Tyrolia-Filiale in Innsbruck

Der Bär und die Nachtigall

Katherine Arden

Maxie Bantleon aus unserer Tyrolia-Filiale in Innsbruck

Gewässer im Ziplock

Dana Vowinckel

Katja Hölzl aus unserer Tyrolia-Filiale in Innsbruck

Der Große Gopnik

Viktor Jerofejew

Katja Hölzl aus unserer Tyrolia-Filiale in Innsbruck

Echtzeitalter

Tonio Schachinger

Katja Hölzl aus unserer Tyrolia-Filiale in Innsbruck

Das späte Leben

Bernhard Schlink

Katja Hölzl aus unserer Tyrolia-Filiale in Innsbruck

Das Leuchten der Rentiere

Ann-Helén Laestadius

Es soll eine Überraschung für ihre Eltern und den älteren Bruder werden, als die neunjährige Elsa zum ersten Mal ganz allein – sie ist ja jetzt ein großes Mädchen! – auf Skiern zum Rentiergehege läuft, um alles für die Fütterung der Tiere vorzubereiten. Stattdessen wird Elsa Zeugin, wie der, dessen Namen sie nie ausspricht, ihr eigenes, junges Rentier Nástegallu tötet und sie danach unmissverständlich zum Schweigen mahnt. „Dann grinste er, zeigte auf sie… und fuhr sich mit dem Finger über den Hals. Tod. Das bedeutete Tod, das wusste sie.“ Elsa wird tatsächlich ihre ganze Kindheit hindurch schweigen, denn schon früh weiß sie, dass es der Polizei und den Behörden völlig egal ist, wenn ihrem Volk, den Sámi, Unrecht angetan wird. Zu oft schon hat sie diesen schrecklichen Satz gehört: „Nur ein toter Lappe ist ein guter Lappe.“ Und so werden Robert Isaksson – der, dessen Name sie nie ausspricht – und andere, für die die Sámi nichts als Dreck sind, immer dreister, und immer mehr Rentiere verschwinden. Zurück bleiben nur die Eingeweide, die Geweihe, die Hufe. Wenn es überhaupt je zu einer Anzeige bei der Polizei kommt, dann läuft diese unter Diebstahl. Aber in den allermeisten Fällen kommt die Polizei ja gar nicht erst. „Das Leuchten der Rentiere“ hat mich von der ersten Seite an begeistert, beeindruckt und beschäftigt. Die raue Schönheit Lapplands, das Leben nördlich des Polarkreises und die fremde Kultur der Sámi sind das, was beim Lesen fasziniert. Aber das große Thema des Romans sind die Ausgrenzung und der Rassismus, denen sich die Sámi Tag für Tag ausgesetzt sehen. Robert zum Beispiel zeigt durch einen Aufkleber auf seinem Auto – „ILO 169 nicht ratifizieren“ – ganz deutlich, dass er die Rechte indigener Völker nicht anerkennt und Schweden die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) weiterhin nicht unterschreiben soll. Mit dem abgehackten Geweihe eines getöteten Rens als „Schmuck“ auf der Motorhaube seines Jeeps verhöhnt er Elsas Familie und alle Sámi zusätzlich. Zehn Jahre später – im Jahr 2018! – hat sich an der Situation der Sámi nichts geändert und auch Robert & Konsorten treiben weiterhin ihr Unwesen. Als eines Tages ein Rentier mit eingeschlagenem Schädel über ein Ortsschild gehängt wird und das Wort Jåhkåmåhkke (der lulesamische Name für den Ort Jokkmokk) mit seinem Blut überpinselt wurde, ist für Elsa klar, dass sie diese Hassverbrechen nicht länger hinnehmen wird. „Samisch zu sein bedeutete, seine Geschichte in sich zu tragen, als Kind vor dem schweren Rucksack zu stehen und sich zu entscheiden, ihn zu schultern oder nicht.“ Elsa hat den Mut, die Geschichte ihrer Sippe zu tragen und das Erbe weiterzuführen. (Demnächst – ein genaues Erscheinungsdatum scheint jetzt, Mitte Januar, noch nicht bekannt zu sein – wird die Verfilmung des Romans bei Netflix zu sehen sein. Ich muss gestehen, dass ich ein bisschen Angst davor habe, was vielleicht aus diesem wunderbaren Roman gemacht wurde… man darf gespannt sein!)

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Das Leuchten der Rentiere

Ann-Helén Laestadius

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Florence Butterfield und die Nachtschwalbe

Susan Fletcher

Also, so eine bezaubernde alte Dame wie Florrie ist mir lange nicht begegnet! Florence Butterfield ist siebenundachtzig Jahre alt, ohne ihre Hörgeräte stocktaub und nach einem – wie sie selber sagt – dämlichen Unfall im Haushalt nur noch einbeinig und daher seit kurzem auf einen Rollstuhl angewiesen. So kommt es, dass sie sich auf die Suche nach einem Pflegeheim macht, obwohl sie sich innerlich doch immer noch wie zwanzig fühlt, und in die Babbington Hall Seniorenresidenz umzieht. Florrie ist höchst zufrieden, denn sie lebt in einer eigenen kleinen Wohnung im umgebauten Apfelspeicher – und sie ist immer noch am Leben und hat ihren Humor nicht verloren und sie schläft in ihrer eigenen Leinenbettwäsche mit Lochstickerei. Ihr Motto: Sie wird aus dem, was noch vor ihr liegt, alles herausholen, denn es wird noch so viel kommen und es gibt so viel Freude auf der Welt! Und es kommt tatsächlich ziemlich viel, aber eher von der unerfreulichen Sorte. Zuerst stolpert ihr guter Freund Arthur über seine schlecht gebundenen Schnürsenkel und stürzt dabei so unglücklich, dass er stirbt. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, fällt wenige Tage später die Heimleiterin Renata aus dem Dachfenster ihrer Wohnung und liegt daraufhin im Koma. Florrie ist die einzige, die nicht an einen Selbstmordversuch glaubt, denn erst am Tag vorher hatte ihr die unscheinbare, sehr zurückgezogen und bescheiden lebende Renata im Vertrauen mitgeteilt, dass selbst sie noch Träume habe und plane, nach Paris zu reisen, außerdem sei sie frisch verliebt. Was nun alles passiert und wie Florrie mit Hilfe ihres reizenden Mitbewohners Stanhope herumschnüffelt und zu beweisen versucht, dass hinter dem Fenstersturz ein Mordversuch steckt – das ist die eine Geschichte. (Die zugegebenermaßen richtig spannend wird und manch verblüffende Wendung nimmt!) Aber die andere, die wirklich wunderbare Geschichte ist die von Florrie und ihrem wild bewegten Leben und der großen Holzkiste, auf der in verschnörkelter Schrift „Botley and Peeves – Exquisite Käseprodukte. Gegr. 1816“ steht. Früher waren Käsestücke und eingelegte Gurken in der Kiste, aber jetzt nicht mehr, jetzt ist es Florries Andenkenkiste. Was sie alles erlebt hat, die Schicksalsschläge, die sie erlitten hat, und all die Liebe in ihrem Leben – zu ihrer Familie, zu ein paar Männern, allen voran der unglaubliche Victor, und nicht zuletzt zu ihrer herzensguten, ein-Leben-lang-besten-Freundin Pinky –, aber auch das Erlebnis, das so schlimm war, dass sie es all die Jahre für sich behalten hat, und die neue, zarte Freundschaft zu Stanhope, das alles ist so schön und bezaubernd, so lustig und traurig, das es einen beim Lesen einfach nur glücklich macht. Ganz zum Schluss erfährt man auch endlich, was zuunterst in der alten Kiste liegt und was Florrie siebzig Jahre lang solche Angst gemacht hat – und da wird man für einen kleinen Moment traurig, aber ganz schnell wird man wieder eingeholt von Florries Zufriedenheit, ihrer Dankbarkeit und ihrer Lebensfreude. Und dann ist alles gut.

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Die Zeit der Verluste

Daniel Schreiber

Daniel Schreiber legt mit seinem kürzlich erschienen Buch „Zeit der Verluste“ ein sehr berührendes wie hilfreiches Bändchen vor, das einer Frage nachgeht, mit welcher wir alle früher oder später konfrontiert werden: Wie lässt sich weiterleben nach der Erfahrung des Verlustes geliebter Menschen? Die Unbeständigkeit, die Vergänglichkeit der Welt ist theoretisch jedem klar, aber erst wenn dies zu einer persönlichen Lebenswirklichkeit wird, begreifen wir, dass die Trauer sich zu etwas Unfassbarem gebiert – einem Umstand, dem wir nicht mehr ausweichen können. „Ich frage mich“ - so schreibt der Autor - , „wie viele Male man ein Ende der Welt ertragen kann, persönlich und kollektiv … Wie es möglich ist, nach jedem dieser Weltenden in das Leben zu finden, das irgendwann weitergeht? Und wie es sein kann, dass wir immer weitermachen?“ Vor zwei Jahren hat der Autor seinen Vater durch eine unheilbare Krankheit verloren; aber zwei Jahre hat es gebraucht, bis er es schafft, davon zu erzählen. Umrahmt wird dieser sehr persönliche Bericht von einem in Nebel gehülltem Tag in Venedig, der die beeindruckende Kulisse für die Überlegungen über die Fähigkeit zu trauen bildet. Daniel Schreiber sucht in den schmalen Gassen der Lagunenstadt, die sich wie keine andere dazu anbietet, nach Wegen aus dem Labyrinth des Schweigens, der Hilflosigkeit, der Überforderung, die die „Zeit der Verluste“ ausmacht. Es ist – ganz stimmig mit dem behandelten Thema – ein ruhiger und besinnlicher Text, gleichzeitig aber auch ein Denkmal, das der Hoffnung gewidmet wird: „Ich kann nicht glauben, wie schön, wie unglaublich schön diese Welt, in der wir leben, sein kann, und wünsche mir, wenigstens die Fähigkeit, das zu sehen, nie zu verlieren.“ Diese Hoffnung wird in den einzigartigen Gemälden zum Ausdruck gebracht, die Schreiber in Venedig besichtigt: die Kunstwerke von Paolo Veronese, Tiziano und Carpaccio oder – das Lieblingsstück des Autors – die „Kreuzauffindung der heiligen Helena“ von Giambattista Tiepolo spenden Trost. Daniel Schreiber erklärt: „Es scheint eine Antwort auf meine gegenwärtige Gefühlslage zu beinhalten, die ich nicht greifen kann... Vielmehr scheint die Antwort in seiner Freiheit zu liegen, seiner unglaublichen imaginativen Freiheit … Die Freiheit, mir eine andere Welt vorzustellen, wenn auch nur für einen Moment.“ Doch nicht nur Persönliches, auch Gesellschaftliches – Krisen wir der Klimawandel oder die aktuellen Kriegsgeschehen – scheint immer wieder zwischen den Zeilen durch, etwa wenn er uns Texte und Bücher philosophischer Literatur (von Judith Butler bis Jacques Derrida) nennt, die ihm in dieser Trauerarbeit eine Hilfe waren – Literaturtipps, die man einem guten Freund nahelegen würde. Und so fühlt sich das Lesen des Textes tatsächlich wie das stille Gespräch mit einer vertrauten Person an, das bewegt und sachte Auswege zeigt, ohne sich anzumaßen, eine endgültige Lösung parat zu haben: „Trauer kann eigentlich erst dann beginnen - die echte Trauerarbeit -, wenn wir aufhören, davor wegzulaufen, wenn wir uns dem Schmerz stellen“, empfiehlt Daniel Schreiber. Trauer kann uns begleiten und – gerade jetzt, zur kalten Jahreszeit, – kann sie Geborgenheit schenken: „Ich werde beginnen, mit ihr durch den Tag zu gehen, und irgendwann wird sie ein Gefühl sein, das mir vertraut vorkommt, das ich, wenn es mir schlecht geht, wie ein besonders schönes und warmes Kleidungsstück überziehen kann.“ Dass auch wir uns dieses „schöne und warme Kleidungsstück“ anziehen mögen, bleibt die Zuversicht in den „Zeiten des Verlustes“.

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Die Töchter des Bärenjägers

Anneli Jordahl

„Wir folgen nur unseren eigenen Regeln. Wir behalten sie für uns, innerhalb des Stamms. Die Regeln oder der Tod.“ Johanna, Tanja, Aune, Tiina, Laura, Simone und Elga. Die älteste gerade zwanzig Jahre alt, die jüngste erst zwölf. Sie sind die sieben Töchter des berühmt-berüchtigten Bärenjägers, Wilderers und Schwarzbrenners Heikki Leskinen. Zur Schule sind sie nie gegangen, denn der Vater ist immer überzeugt gewesen, Menschen würden nur studieren, um andere wie Sklaven schuften zu lassen. „Wer sein Wissen vermehrt, der vermehrt auch seinen Schmerz.“ Zeit ihres Lebens haben sie verinnerlicht, was ihnen der Vater gepredigt hat: „Traut niemals den zwei P – dem Pastor und der Polizei.“ Später wird diese Regel erweitert um die zwei S: Die Steuerbehörde und das Sozialamt. Von der Stadt und von allen Fremden hat man sich fernzuhalten, denn die wollen nur einen Keil zwischen sie treiben. Will man das Leben der Töchter beschreiben, muss man sich vieler Negationen bedienen, vieles ist eben NICHT. Rechnungen beispielsweise werden NICHT bezahlt, im Küchenofen türmen sich Inkassoschreiben und Pfändungsandrohungen des Gerichtsvollziehers. Als erst der Vater nach dem Angriff eines Bären stirbt und kurz darauf die ungeliebte Mutter, stehen die Schwestern an einem Scheideweg: Sie können sich den Behörden und den „Sozialklempnern“ ausliefern, die nur darauf aus sind, sie zu entzweien. Oder sie wahren das Andenken des Vaters und folgen weiter seinen Regeln. Dazu müssen sie den heruntergekommenen, völlig verwahrlosten Einödhof, der spätestens nach Vaters Tod aufgehört an, ein Zuhause zu sein, verlassen und in die Wildnis ziehen. Denn die tiefen Wälder sind ihr eigentliches Zuhause. „Wir alle wissen, weshalb wir entschieden haben, in der Wildnis zu leben. Es ist unser Schicksal, dort zu leben, wo Vater auf die Jagd gegangen ist.“ Es ist Johanna, die älteste, die „den Stamm“ anführt und mit unerbittlicher Härte die verqueren Regeln des Vaters und seine Vorstellungen vom Leben weiterhin durchzusetzen versucht – und es wird ein Leben, das fast außerhalb unserer Vorstellungskraft liegt. Während die älteren Schwestern alles schlucken, was „König Johanna" sagt, und vom Vater sprechen, als wäre er Gott selbst, beginnen die jüngeren Mädchen insgeheim zu rebellieren. Vor allem bei Laura flammt die große Angst wieder auf, dass sie niemals anderen Menschen als ihren Schwestern begegnen wird, aber wie soll sie dem Verlies ihrer Geschwister entkommen? „Die Töchter des Bärenjägers“ ist wirklich starker Tobak. Die Mädchen sind ein Mysterium, ihre Derbheit und körperliche Gewalt, ihre Unberechenbarkeit lassen sich kaum in Worte fassen. Auf den ersten Blick scheinen sie ein paar traurige Gestalten zu sein, die mit der Gesellschaft nicht klarkommen, aber gleichzeitig beeindruckt die gewaltige Kraft ihrer gegenseitigen Verbundenheit. Die Geschichte ist roh und brutal und entwickelt von der ersten Seite an einen ganz eigenartigen Sog. Diese menschenscheuen Mädchen, die vor nichts zurückschrecken und nur im Wald wirklich frei sind, deren Leben aus Jagen, Essen, Schlafen und „’nem guten Schluck“ besteht, treffen einen mitten ins Herz!

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Der Bär und die Nachtigall

Katherine Arden

Wer bei den derzeitigen frostigen Temperaturen auf der Suche nach geeigneter Lektüre ist, sollte zu Katherine Ardens Roman „Der Bär und die Nachtigall“ greifen. Die Geschichte spielt vor hunderten von Jahren in den endlosen Wäldern Russlands mitten im tiefsten Winter. Hauptfigur ist die junge Wasja, ein rebellisches und ungestümes Mädchen, das vor allem ihrer frommen Stiefmutter Anna und dem Priester Konstantin ein Dorn im Auge ist. Konstantin ist eine gleichzeitig abstoßende wie auch lächerliche Gestalt in seinen bigotten Versuchen, den Menschen im Dorf den Glauben an die alten Geister und die (in seinen katholischen Augen!) falschen Götter auszutreiben und das Christentum näherzubringen. Das Mädchen Wasja, das ihm gegenüber nicht demütig, sondern selbstbewusst auftritt, stößt ihn im selben Maße ab wie es ihn fasziniert. Ihre Wildheit ist Sünde. Wasja weiß seit ihrer Kindheit, dass sie fürs Eingesperrtsein geboren wurde: „Kloster oder Herd, etwas anderes gibt es nicht.“ Aber Wasja hat die Gabe des zweiten Gesichts, was sie – je mehr die Missionierung der Dorfbewohner voranschreitet – immer mehr zur Außenseiterin macht. Und so begegnen wir allerlei Gestalten aus der russischen und slawischen Mythologie wie zum Beispiel der Wassernymphe Rusalka, dem Waldgeist Leshy, Beschützer der Bäume und Tiere, oder dem knuffigen Domowoi, Hüter des Hauses, des Herdes und des Feuers. Der Bannik, der Badehausgeist, ist es schließlich, der Wasja folgende Prophezeiung macht: „Du wirst zu dem Ort reiten, an dem Himmel und Erde sich berühren… Du wirst im tiefen Winter Schneeglöckchen pflücken, eine Nachtigall beweinen und aus freien Stücken sterben.“ Und so kommt es. In den finsteren Wäldern erhebt sich eine uralte, dämonische Macht. Es ist der Bär, der grausame Zwillingsbruder von Morosko. Morosko ist der Frostdämon, Todesgott und König des schwärzesten Winters, uns heute unter dem Namen „Väterchen Frost“ bekannt. Der Bär ist derjenige der beiden, den die Menschen fürchten, am meisten liebt er das Chaos, Krieg und Seuchen. Vor langer Zeit wurde der Bär von Morosko gebannt, doch nun ist er erwacht und stärker denn je. Nur zur Wintersonnenwende, wenn Moroskos Kraft am größten ist, kann der Bär erneut gebannt werden. Aber dafür braucht der Frostdämon Wasjas Hilfe… „Der Bär und die Nachtigall“ ist eine atemberaubende, düstere und grausame Geschichte über alte Magie und alte Rivalitäten, die sowohl phantastische wie auch märchenhafte Elemente vereint und gekonnt alte Legenden und Folklore vermischt. Und es ist die Geschichte einer jungen Frau, die unbeirrbar ihren Weg geht und sich nicht in das gewünschte Rollenbild drängen lässt. Wasja wird durch die Lande ziehen und niemandes Braut sein, weder Gottes noch die eines Menschen. Sie will frei sein, und der Preis dafür ist ihr egal. Wer davon nicht genug bekommen kann, erfährt im zweiten Teil – „Das Mädchen und der Winterkönig“ – wie die Geschichte von Wasja und Morosko weitergeht.

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Gewässer im Ziplock

Dana Vowinckel

Der kürzlich erschienene Roman „Gewässer im Ziplock“ von Dana Vowinckel hat durch die Terrorattacke der Hamas am 7. Oktober 2023 eine neue Brisanz erhalten: Im Eigentlichen handelt es sich hier um eine Pubertätsgeschichte, die aber nun auch eine Metapher auf das Land Israel zu sein scheint, wenn es um die Frage nach jüdischer Herkunft und Tradition geht – als Ganzes eingebettet in den jährlichen Aufenthalt der jungen Margarita, die im Sommer ihre Großeltern in Chicago besucht. Von dort aus wird sie nach Israel weiterfliegen, um ihre Mutter zu besuchen, welche die Familie schon vor Jahren verlassen und die kleine Margarita in Deutschland bei ihrem Vater, einem jüdischen Kantor in Berlin, zurückgelassen hat. Das Verhältnis zu ihrer zerklüfteten Familie bleibt – inmitten des Pendelns zwischen Berlin, Chicago, Jerusalem - angespannt; die Ereignisse kulminieren schließlich in der Rückkehr nach Chicago, wo die Großmutter krank darnieder liegt. Identität und Fremdheit spielen ebenso eine Rolle, wie die der Minderheitsstatuts der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Was mich begeistert hat, ist, wie Dana Vowinckel eine große Begabung dafür hat, Individuen zu erzählen, also deren Ängste und Probleme zu beschreiben: die Ängste der heranwachsenden Margarita, die mit ihrem Körper, dessen Peinlichkeit und dessen Begehren umzugehen lernt, und die Ängste des Vaters um seine Tochter, die – angesichts des neu entfachten Antisemitismus - auch verallgemeinerbar, als Ängste des jüdischen Vaters um seine Tochter in Berlin und nachher in Israel beschrieben werden können. Dabei weiß Margarita wenig über den Nahostkonflikt, es schimmert mal auf durch die Begegnung mit einem jungen Mann, der zu den Demonstrationen geht, wird aber nur wie beiläufig erzählt. „Gewässer im Ziplock“ scheint also in dieser tollen Hellsichtigkeit geschrieben vor den Ereignissen des 7. Oktober, greift aber dennoch viele Themen auf, die wir jetzt nach dem Terrorangriff viel klarer vor Augen haben. So wird diese Biographie zu einem politisch weltanschaulichen Raum, in dem die aktuellen Konflikte in normale, alltägliche menschliche Konfrontationen und Herausforderungen übergehen. Der Roman stellt uns immer wieder vor die Frage: Was heißt eigentlich „jüdisch“? Jüdisch ist man im strengen Sinne ja nur, wenn die Mutter jüdisch ist, aber gerade dies scheint die Geschichte zu unterlaufen, denn es gibt im Buch eine interessante Pointe, die dazu führen würde, dass die Protagonistin gar nicht jüdisch ist, da der in Berlin lebende Vater zwar jüdisch ist, ihre in Chicago und Israel lebende Mutter aber nicht… Ich finde es faszinierend, wie viele Türen zum Nachdenken geöffnet werden, die eine „Sehnsucht nach dem Anderswo“ ausdrücken, aber nicht pädagogische Schlupfwinkel oder historisch-politische Lösungen anbieten – haben wir es doch hier nicht mit Thesen, sondern mit einer Geschichte aus Fleisch und Blut zu tun, in der die Figuren zwar in sich stimmig dargestellt werden, wo aber diese Protagonisten ganz und gar nicht miteinander harmonieren, sondern immer wieder – oft sehr impulsiv – aufeinander reagieren. „Gewässer im Ziplock“ beweist, wie wichtig und lebendig solche Stimmen in der Literatur sind, die aufzeigen, wie sich eine junge Frau zu ihrem Glauben und ihrem Jüdischsein verhalten kann – und trotzdem in unsere Zeit hineinpasst: denn es geht vordergründig auch um Selbstfindung und Selbstbehauptung; im Grunde geht es um die „Sehnsucht nach dem Anderswo“, wie es Mascha Kaléko einmal schön beschrieben hat.

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Der Große Gopnik

Viktor Jerofejew

Viktor Jerofejew, ein bekannter russischer Autor, der sich gleichzeitig als Kosmopolit versteht und nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ins Exil nach Berlin flüchtete, hat in seinem neuen Roman „Der Große Gopnik“ Wladimir Putin ein Denkmal geschaffen. „Gopnik“ bedeutet so viel wie „Hinterhofschläger“ und bezeichnet einen Emporkömmling aus schlechtem, bildungsfremdem Milieu, der die Straße zu beherrschen und dadurch seinen Machstatus zu behaupten versucht. Der „große“ Gopinik – eine Paradoxie, weil Gopnik eigentlich einen „kleine Halunken“ meint – wird durch Putin verkörpert, der eigentlich ein Mann der Straße war, aber aus diesem Geist der „Hinterhofschläger“ zur größten Macht in Russland gelangte. Diese Fähigkeit ist für Jerofejew charakteristisch für die ganze russische Geschichte, nicht nur für deren Gegenwart. Obwohl der Roman ganz augenscheinlich von Putin handelt, wird dieser nicht ein einziges Mal mit Namen genannt. So gelingt es dem Autor geschickt, das Wesen der russischen Macht und deren Zwielichtigkeit sowie die moralische Ambivalenz zu entlarven. Lebensgeschichte des Autors, die geheimnisvoll ins Geschehen verwoben scheint: Biographie und Geschichte Russlands laufen beeindruckend parallel zueinander, denn Jerofejew hatte wichtige Funktionen inne – gerade an den Schaltstellen der historischen Ereignisse; die Nähe zur Sowjetmacht hat seine Familie stark geprägt. Zwar werden Macht und Kultur als Gegensätze zueinandergesellt, doch geht es interessanterweise dabei nicht um das traditionelle Streitpaar „Macht und Geist“, welches für gewöhnlich den Schriftsteller als intellektuelles Gewissen der Nation als Gegenpart zur Macht und zur Sonderposition der Elite des Landes in den Fokus rückt. Nein, hier haben wir einen Autor, der die Macht sehr gut kennt: Stalin war sein Pate, sein Vater war der offizielle französische Übersetzer von Stalin und Molotow sein Nachbar; er selbst genoss als Diplomatensohn eine privilegierte Stellung innerhalb der russischen Gesellschaft. Dass er sich dennoch nicht scheut, die obersten Führer Russlands anzuprangern, erklärt sich vielleicht aus dem Bedürfnis, sich – trotz der biographischen Nähe zur Elite – davon zu distanzieren. Dieses „wuchtige“ Buch, das zuerst eine maßlose Überforderung darstellen könnte, offenbart allmählich sehr viele Ebenen und unzählige Bezüge, sodass es einerseits die Grenzen sprengt, aber andererseits einen unglaublichen Gewinn an Erkenntnis und Reflexion verspricht, sodass man am Ende das Gefühl hat, Russland ein bisschen mehr verstehen zu können: Ich habe diesen Roman als erratisches Erlebnis erfahren, als etwas Reinigendes – nicht aber als etwas Beruhigendes! –, gerade in der von Jerofejew immer wieder zur Sprache gebrachten Obszönität: Angesichts des noch immer wütenden Ukraine-Krieges – und das Buch scheint eine Antwort darauf geben zu wollen – ist es aufregend, einen russischen Autor zu lesen, der es wagt, ja, noch mehr, der den Anspruch erhebt, Definitionen herzustellen, die helfen können, die aktuellen Geschehnisse einzuordnen. Viktor Jerofejew ruft uns Lesern, die wir oft hilflos am Rande der Geschichte wie Zuschauer eines Weltgeschehens, das wir nicht begreifen können, stehen und uns fragen: Wie konnte es nur so weit kommen? …, zu: „Mut!“.

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Echtzeitalter

Tonio Schachinger

Ein absolut empfehlenswertes Buch ist der mit dem Preis der Frankfurter Buchmesse gekrönte Roman des österreichischen Schriftstellers Tonio Schachinger, in dem es um nichts weniger geht als um „Echtzeitalter“: … Möchten wir nicht alle in einem „echten“, in einem realen „Zeitalter“ leben – und nicht in einer digitalen Parallelwelt? Solch ebenso brisante wie aktuelle Themen verhandelt das fesselnde Geschehen, dessen Schauplatz ein elitäres Wiener Internat ist. Als Hauptfigur lernen wir den jungen Till Kokorda kennen, der unter einem despotischen Klassenlehrer leidet und gleichzeitig seiner Leidenschaft für online-Games frönt. Ganz augenscheinlich handelt es sich um eine Coming-of-Age-Geschichte, die alltäglicher nicht sein könnte; dennoch versteht es der Autor meisterhaft, durch humorvolle und kluge Passagen dem Alltag seinen verborgenen Reiz abzugewinnen. Dass dabei der österreichischen Gesellschaft der Spiegel vorgehalten wird, trägt zur niveauvollen Unterhaltung bei. Nicht nur der Ernst der Probleme des Erwachsenwerdens, sondern auch Corona, die Digitalität, der Glanz der ersten großen Liebe, die Schwierigkeiten der Verständigung zwischen den Generationen finden Platz im „echten Zeitalter“, in dem wir leben – und an das wir uns wohl schon zu sehr gewöhnt haben. Die feine Ironie des Buches zeigt, wie gerne die Flucht ergriffen wird in eine digitale Welt, jene der Computerspiele, die eine Gegenwelt darstellt zu den verstaubten Anschauungen des Deutschlehrers Dolinar, der eine Art von Bildung vorschlägt, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint – wie im Übrigen die Fassade hinter der gehobenen Oberschicht des Wiener Bürgertums zu bröckeln beginnt. Trotz dieser feinen Seitenhiebe auf Tradition und konservatives Denken durchzieht eine sachte Nostalgie die Seiten, die zum Nachdenken darüber anregt, was in „Echtzeitalter“ wirklich zählt. „Entweder man liest gerne, oder man spielt gerne Games. So oder so verpasst man was“, lässt Autor Schachinger einen von Tills Mitschülern resümieren. Wir jedenfalls sollten die Lektüre dieses Romans nicht verpassen!

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Das späte Leben

Bernhard Schlink

Von Thomas Hobbes stammt der berühmte Ausspruch: „Primum vivere deinde philosophari“; also: zuerst das Leben, dann die Philosophie – oder andersrum: ohne echtes Erleben kann keine fruchtbare Philosophie entstehen. Was aber, wenn das Leben abrupt unterbrochen wird durch eine ausweglose Diagnose? Was, wenn nur mehr ein „spätes Leben“ bleibt, das der Philosophie bedarf, um ihm einen Sinn abzugewinnen? Der Protagonist von Bernhard Schlinks neuem Buch, Martin, befindet sich in einer eben solchen Situation: Nach einer ärztlichen Untersuchung wird ihm nahegelegt, seine Tage zu zählen, denn er haben nur noch wenige Monate zu leben. Was kann er in dieser Zeitspanne tun, um seiner jungen Frau und seinem sechsjährigen Sohn David etwas zu hinterlassen? Wie geht man damit um? Gibt es ein Muster dafür? Zunächst hat er Schwierigkeiten damit, überhaupt zu entziffern, was das alles bedeutet: „Der Himmel war blau, die Sonne schien, auf dem Grün in der Mitte der Straße blühten Krokusse. Ja, dachte er, was für ein schöner Morgen. Wie habe ich mich immer über den Frühling gefreut, nach langen Monaten, in denen der Himmel tief und grau über der Stadt lag!“ Martin versucht, seinem Sohn Briefe zu schreiben, die ihn später an den Vater erinnern sollen und gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit dem Tod, mit dem plötzlichen Verschwinden eines Menschen, bedeuten. "Ihr Sohn ist jünger, aber darum kommt er nicht besser damit zurecht. Geben Sie ihm die Gelegenheit, sich von Ihnen zu verabschieden. Er kann mit Ihrer Frau an Ihrem Bett sitzen und in den letzten Wochen erleben, wie Sie immer weiter weggehen."- „Eigentlich fand er die Bemerkung übergriffig“, so heißt es im Buch weiter: „Aber dann sah er im Gesicht des Arztes die Sorge, er sei zu persönlich geworden, sah die Festigkeit, weil er, was er gesagt hatte, richtig und wichtig fand, sah das Wohlwollen für ihn und für seinen Sohn. "Ich höre, was Sie sagen." Er stand auf. Auch der Arzt stand auf und trat auf ihn zu - wollte er ihn tröstend umarmen? Er wich zurück, verabschiedete sich und ging, ehe der Arzt etwas sagen konnte.“ Michel de Montaigne hat einmal gesagt: "Philosophieren heißt sterben lernen". Die Seiten dieses anrührenden Romans zeigen, wie es gelingen kann, sich dem zu stellen, was uns alle erwartet, aber doch so gerne verdrängt wird: Wie soll man dem Unausweichlichen begegnen? Bernhard Schlink schafft es, ohne pädagogisierend zu wirken, eine Zukunft darzustellen, in der man selbst nicht mehr vorkommt: Martin wird sterben und seine junge Frau und sein Sohn werden ohne ihn weiterleben. Doch kann man Menschen über den Tod hinaus an sich binden? Was man auf alle Fälle kann – und Martin tut es – ist, ein geistiges Vermächtnis zu hinterlassen: Briefe an den Sohn zu verfassen, in denen er über Religion, Gerechtigkeit, Liebe spricht und allem eine eigene – bleibende, weil noch immer lebendige – Prägung zu geben vermag. Erstaunlich ist, dass das letzte Kapitel des Buches, das vom eigentlichen Sterben und dem Tod Martins erzählen sollte, fehlt: Es fehlt, weil dieses Kapitel von jedem selbst, mit der eigenen Biographie, ergänzt werden muss. Niemand kann das für uns tun. Aber was wir tun können, ist, dem Hier und Jetzt einen Sinn zu geben, damit auch das „späte Leben“, das Unausweichliche, uns nicht mehr aus der Bahn wirft. Dabei kann uns dieser Text von Bernhard Schlink eine Hilfe sein: ein stiller, aber wichtiger und eindrucksvoller Roman für unsere Neujahrsvorsätze 2024!

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