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  • Mehr Kopf als Tuch von Leyla Derman; Kübra Gümüsay; Soufeina Hamed; Anja Hilscher; Dudu Kücükgöl; Haliemah Mocevic; Kevser Muratovic; Maisa Pargan; Nadia Shehadeh; Betül Ulusoy; Menerva Hammad; Munira Mohamud; Fatima Moumouni

    Junge muslimische Frauen berichten im vorliegenden Büchlein über ihre Erfahrungen im Umgang mit jenen, die kein Kopftuch tragen und/oder einer anderen Religion als der ihren angehören.
    In ihren Schilderungen über das, was sie kränkt(e), wovon sie träumen, was sie vom Miteinander erwarten, nehmen sie sich kein Blatt vor den Mund, und insofern tadeln sie in ihrer Offenheit die das Bild der muslimischen Frau verfäschenden Medien.
    Die Frage, weshalb denn ein Kopftuch das Haar verdeckt, beantwortet eine zum Islam konvertierte Autorin. Dabei überrascht ihr Zitat aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth (1 Kor 1,11.6): „Wenn eine Frau kein Kopftuch trägt...“. Sie sagt, das Kopftuch sei lediglich Teil der islamisch gebotenen bedeckenden Kleidung, es ist nichts anderes als Bekleidung, und es habe nichts mit einer Zweitrangigkeit der Frau zu tun. Weshalb im Lauf der Zeit das Kopftuch „zum Symbol hochstilisiert“ (75) wurde, ist unklar.
    Am Ende mehrerer Kapitel stehen Endnoten, auch Anmerkungen zur Recherche nach weiterführender Literatur.
    Um Vorurteilen, wie sie den Medien durch negative Berichterstattungen unterstellt werden, entgegenzuwirken, wäre es angebracht, die Frage nach einem angemessenen Umgang mit islamisch geprägten Mitmenschen innerhalb entsprechender Unterrichtsfächer (Ethik, Gesellschaftslehre) zu diskutieren.
    Am Ende des Buches sind Kurzbiographien der 11 Autorinnen nachzulesen; in ihnen wird auf deren Schul/Hochschulbildung aufmerksam gemacht.

  • Mehr Kopf als Tuch von Leyla Derman; Kübra Gümüsay; Soufeina Hamed; Anja Hilscher; Dudu Kücükgöl; Haliemah Mocevic; Kevser Muratovic; Maisa Pargan; Nadia Shehadeh; Betül Ulusoy; Menerva Hammad; Munira Mohamud; Fatima Moumouni

    Mehr Kopf als Tuch" ist ein Buch über starke, selbstbewusste, gebildete muslimische Frauen aus Österreich und Deutschland, die in insgesamt elf persönlichen Geschichten und gesellschaftskritischen Analysen Einblick in ihre Lebenswelten geben. Dabei fügen sich die einzelnen Erzählungen zu einem bunten Kaleidoskop an Bildern, Gefühlen, Erfahrungen und Erlebnisse dieser Frauen zusammen, die berühren, verwundern, irritieren, beschämen... in jedem Fall aber bereichern und zum Nachdenken anregen.

    Ich habe dieses Buch in einem Rutsch durchgelesen und konnte es gar nicht mehr zur Seite legen. Bereits das Vorwort ließ mich schallend lachen: Eine Wienerin mit Kopftuch, genauer gesagt eine Kassierin, die den Kunden an der Kasse im breiten Wiener Dialekt fragt, ob er auch eine Tüte braucht: "A Sakkal ah"? Der Kunde blickt kurz verwirrt von seiner Geldtasche auf, lächelt dann und antwortet in einem leichten Sing-Sang, während er mit Kopf und Oberkörper vor und zurück wippt: "Asakkallah, Asakallah". Er verlässt den Laden in dem Glauben, sich weltoffen und kosmopolitisch präsentiert zu haben und lässt dabei eine völlig irritierte, Kopftuch tragende Wienerin zurück.
    Solche und ähnliche Begebenheiten im Buch lassen den Leser Schmunzeln, sich stellenweise auch ärgern oder aber selbstkritisch fragen: Wie hätte ich in einer solchen Situation reagiert?

    Es stimmt nachdenklich, wenn Kevser Muratovic in ihrer Abwandlung über den langen Weg der Integration feststellt: "Die Festschreibung auf ein einziges Identitätsmerkmal ist ein enges Korsett, dessen einschränkende Wirkung mal mehr, mal weniger stark empfunden wird", und sich infolge fragt: "Es war und ist mir schon immer ein großes Rätsel gewesen, warum Menschen mit Migrationshintergrund bestenfalls Spezialisten für Migrationsthemen sein konnten". Diese Reduzierung auf das, was anders ist bzw. als fremdartig wahrgenommen wird, verstellt den Blick auf die unzähligen anderen Identitätsanteile, die einen solchen Menschen noch ausmachen. Befreiung erfährt die Autorin laut eigenen Angaben erst in der Anonymität der Masse, in der sie eine unter vielen, gleich und doch einzigartig bleibt.

    Amani Abuzahra betrachtet in ihrem Essay Europas Verhältnis zu Muslimen im historischen Kontext und streicht hervor, wie lange diese in unseren Breitengraden bereits beheimatet sind bzw. wie nahe und vertraut uns das vermeintlich Fremde als Teil unseres Kulturgutes tatsächlich ist.

    Haliemah Mocevic zeigt auf, dass Schubladisierung und klischeehafte Denkmuster selbst vor dem universitären Bereich nicht Halt machen. So wird sie als ausgebildete Psychologin und Teil des Uni-Teams in ihrer Vorbereitung einer Veranstaltung von einer vor Ort anwesenden Lehrerin mit der Feststellung begrüßt, die Abendschule befinde sich in einem anderen Raum. Offenbar war dieser Frau das Klischeebild der bildungsfernen Muslimin wesentlich vertrauter, als der offensichtlichere Gedanke, die "Kopftuchträgerin" mit dem Projektmaterial in Händen könnte tatsächlich Teil des vorangekündigten Uni-Teams sein.

    Lelya Derman wiederum beschreibt eine gar nicht so sonderbar anmutende Woche einer muslimischen Frau, Ehefrau und Mutter, die sich - mit Ausnahme des Kopftuches und des Rituals, abends noch Kaffee zu konsumieren - gar nicht sonderlich vom eigenen Leben zu unterscheiden scheint. Und nein, es kommen darin weder gewalttätige, böse Ehemänner, noch Schläge, Blutvergießen und Racheakte vor. Dafür aber wird von Rangeleien mit dem Partner berichtet, wer morgens mit den Kids aufsteht, das Abendessen zubereitet etc,... Selbst die geschilderten Ärgernisse mit ungeduldigen Mitmenschen, die sich an der Kasse frech an Müttern vorbei drängeln, die greinenden Kinder dabei wohlweislich ignorieren und auf empörte Aufschreie mit unflätigen Aussagen reagieren, erscheinen nicht völlig unbekannt und neu. Das scheinbar Fremde zeigt sich hier vertraulich nahe.

    Faszit: Abseits von der Klischeefigur der muslimischen Frau, wie sie in vielen Medien und Teilen der Politik verkörpert wird, die unterdrückt und zwangsverheiratet, ungebildet und unmündig ein Schattendasein fristet, leben die vorgestellten muslimischen Frauen ein "ganz normales" Leben, haben Träume, Wünsche und Sehnsüchte und treten für diese ein. Sie sind Ärztinnen, Technikerinnen, Mütter, Geschäftsfrauen, Hausfrauen, Lehrerinnen, Anwältinnen, Akademikerinnen, Ehefrauen, Pädagoginnen, Nachbarinnen, Freunde und vieles mehr.
    Das augenscheinlich Fremde dieser Frauen in Form eines Kopftuches kann dabei nicht mehr über das Vertraute, das Vereinende und Nähe-Stiftende hinwegtäuschen.

    In diesem Sinne regt das Buch dazu an, "die Scheuklappen abzunehmen, den Kopf zu heben, sich umzuschauen und zu sehen", was nicht auf den ersten Blick sichtbar gemacht wird. Und es ermutigt, sich für ein solidarisches "Wir" einzusetzen, Frauen mit unterschiedlichen Selbstkonzepten in den unterschiedlichsten Lebenswelten als Bereicherung zu erleben und sich für diese Vielfalt und Einzigartigkeit stark zu machen – Ja zu sagen zu Menschen, mit oder ohne Kopftuch.

    Absolute Kaufempfehlung.