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  • Der Apfelbaum von Christian Berkel

    Der Autor Christian Berkel sieht sich mit dem fortschreitenden Alter seiner Mutter und ihrer zunehmenden Demenz konfrontiert.
    Jeder, der diesen Prozess bereits erlebt hat, weiß, wie emotional fordernd dies ist und welche Fragen einem durch den Kopf gehen: zB Wer war meine Mutter? Was hat sie erlebt? Weshalb wurde sie die, die sie heute ist? Weshalb kenne ich nur Teile/Fragmente ihrer/meiner Familiengeschichte? Aus welcher Familie komme ich überhaupt? Was bleibt?
    Berkel drückt dies in einem Vergleich aus (Seite 174 lt. meiner epub-Version), dass er verhindern möchte, einem Buch gleich zu sein, aus welchem Kapitel herausgerissen wurden, unverständlich für andere und sich selbst und dass er diese leeren Seiten mit Hilfe seiner Mutter noch füllen möchte, denn zuerst stirbt der Mensch und dann die Erinnerung an ihn.
    Und Berkel bedient sich – familientraditionsgemäß – der Literatur, Bücher und des schriftlichen Festhaltens der Familiengeschichte, um diesen - teilweise schmerzvollen - Prozess zu bewerkstelligen.
    Es offenbart sich die Lebens- und Liebesgeschichte seiner Eltern Sala und Otto Berkel, die sich bereits 1932 in Berlin als 13-Jährige bzw. 17-Jähriger kennengelernt haben. Sie aus einer unkonventionellen jüdischen Intellektuellenfamilie, er aus der Arbeiterklasse (und auch bei diesem Kennenlernen spielte ein Buch eine gewichtige Rolle!).
    Die bewegte Familiengeschichte führt einem über drei Generationen über den europäischen Kontinent (Deutschland, Frankreich, Spanien, Polen, Russland) bis nach Argentinien und wieder retour.
    Der Roman lässt einem Eintauchen in die Welt der Kunst, Literatur, Mode, Psychotherapie; man begegnet vielen heute noch bekannten schillernden Berühmtheiten der damaligen Zeit, der Zeit des Aufbruchs, der zunehmenden individuellen Freiheit und Emanzipation, der jedoch die Gegenbewegung folgte: die Zeit des Umbruchs, der Diktaturen, des Widerstandes, der Gräuel der Nazis (aus religiösen Motiven oder aufgrund der sexuellen Orientierung), der Lager und der Kriegswirren.

    Berkel erzählt große Teile der Familiengeschichte aus der Perspektive Salas, Ottos, der Großeltern oder anderer Familienmitglieder und nimmt selbst hauptsächlich die beobachtende, beschreibende, kaum wertende, manchmal philosophische Perspektive ein.

    Seine Emotionen umschreibt er durch literarische Anspielungen, Vergleiche oder macht sie an Büchern fest, beispielsweise hat mir eine seiner „Rand“-Bemerkung zu Elementarteilchen (von Michel Houellebecq) das Wasser in die Augen getrieben.

    Das Lesen ist zum Teil eine große Herausforderung: einerseits aufgrund der Vielzahl an Personen und Handlungsschauplätzen, andererseits aufgrund der Schwere der Themen (zB die Entmenschlichung/Verdinglichmachung durch die Nazis, die Lagerbeschreibungen, …).

    Es kam mehrmals vor, dass ich das Buch weglegen musste, weil mich Passagen derart emotional beschäftigten!

    Gleichzeitig gab es auch immer wieder erfreuliche Momente und Lichtblicke: Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens Menschen geblieben sind und geholfen haben.

    Fazit:
    Ich freue mich für Christian Berkel, dass er mit seiner Verschriftlichung eine immerwährende literarische Erinnerung an seine Vorfahren (und ihn) in Händen hält, an der er mich teilhaben ließ!
    Ein gelungenes Beispiel, wie Buch- und Literaturliebhaber ihre Passion nützen können, um sich herausfordernden Situationen zu stellen. Nicht nur eine Familiengeschichte, sondern ein umfangreiches, bewegendes und einen nachdenklich zurücklassendes Zeitzeugnis der europäischen – insbesondere deutschen – Geschichte. Gehört gelesen!