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Die Magier von Montparnasse

Die Magier von Montparnasse

Roman

von Oliver Plaschka

Hardcover
427 Seiten; Vorsatzkarten; 22 cm x 14.5 cm
Sprache Deutsch
3. Auflage
2010 Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-93874-6
 

Textauszug



Vor dem Fall - Rue de la Gaité, 26.9.1926


Die Ereignisse jenes Sonntags im September, die in ein solches Tohuwabohu münden sollten, dass später niemand seine Verwicklung in sie eingestehen mochte (besonders nicht die Mitglieder der Société Silencieuse), entzündeten sich an einer unbedeutenden Kleinigkeit, welche sich unglückseligerweise gerade zum Abschluss unserer sonst recht erfolgreichen Reihe von Vorstellungen im Bobino zutrug.


Ein Engagement im Bobino konnte man zu dieser Zeit getrost als Krönung einer jungen Karriere bezeichnen. Ich weiß nicht, was Blanche - ich bin in Geschäftsdingen nicht erfahren - Philbert, dem Direktor, versprochen hatte, der aus dem übergroßen Café gerade erst wieder ein Varieté gemacht hatte, wie es bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts eines gewesen war. Allerdings war mein Eindruck, dass von all den Menschen, die in diesen verrückten Jahren nach Montparnasse strömten, allenfalls ein Zehntel ernsthaft am Talent der Künstler interessiert war, die hier ihr Refugium gefunden hatten. Die übrigen neun waren gekommen, um nackte Brüste und fliegende Beine zu sehen - und dann erklären Sie mal einem Varietédirektor, weshalb er einen altmodischen Zauberkünstler wie Sie engagieren sollte.


Wir bekamen eine ganze Woche. Blanche kam freudestrahlend aus Philberts Büro und wedelte aufgeregt mit einem Blatt Papier, auf dem die Grundzüge unseres Programms festgehalten waren, wie wir es voriges Jahr auf den Kleinbühnen Montmartres gespielt hatten. Nicht allzu verwunderlich, dass die Hälfte der Tricks nun durchgestrichen und durch andere ersetzt war. Kopfschüttelnd überflog ich die neue Liste. Amor vincit omnia , stand in Blanches schwungvoller Mädchenschrift darüber.


»Das ist unser neues Programm«, verkündete sie und umarmte mich.


»Bei allen Geistern, Blanche«, wand ich mich, »viele dieser Nummern haben wir noch nie hinbekommen! Wieso hast du ihm nicht gleich den indischen Seiltrick verkauft?«


Sie legte die Stirn in Falten, als schmolle sie. Der indische Seiltrick endete traditionell mit der Verstümmelung der Assistentin, und es gab sehr geteilte Auffassungen darüber, ob es überhaupt möglich war, ihn mehr als einmal aufzuführen.


»Vertrau deinen Fähigkeiten, Ravi«, redete sie mir zu. »Wir schaffen das, wenn wir uns Mühe geben. Die Liebe besiegt alle Hindernisse!«


Ich seufzte. Meine Fähigkeiten waren nicht das Problem. Das Problem war, den Leuten einen Trick zu verkaufen. Keine echte Magie. Blanche wusste das sehr gut, doch Menschen das Unmögliche glauben zu machen, ohne das Unmögliche zu vollbringen, war genau das, was sie an unserem Beruf so liebte. Ich wäre ohne sie völlig hilflos gewesen.


»Wir müssen sofort die Liste durchgehen«, entschied ich, und so machten wir uns an die Arbeit.


Die kleineren Wünsche Philberts waren leicht zu berücksichtigen. Blanche kürzte ihr Kleid an den entscheidenden Stellen, und die Show wurde noch mehr zu ihrer als meiner. Mir machte das nichts; der Zauberer sollte auf der Bühne Ruhe ausstrahlen, so dass man ihm im entscheidenden Moment vertraut, und je mehr Aufmerksamkeit auf seiner Assistentin liegt, um so besser. Wir bekamen ein kleines Orchester - ein Streichquartett, ein Schlagzeug, der Ablenkung zuliebe, und eine Klarinette für die Schlange - sowie einige Bühnenarbeiter, die sich um die komplexen Lichteffekte kümmerten. Die Arbeiter unterschrieben alle einen Vertrag, dass sie kein Wort über das verlieren durften, was sie hinter dem Vorhang erlebten. Dasselbe galt für die beiden ägyptischen Tänzerinnen, die wir für den letzten Auftritt benötigten und die natürlich nicht aus Ägypten stammten. Mir behagte das Ganze nicht; ich hatte nie mit anderen Assistenten als mit Blanche gearbeitet. Aber für Romeo und Julia im Land der Pharaonen waren sie unabdingbar. »Wer sonst sollte dich in dein Grab sperren, wenn ich nicht mehr bin?«, witzelte Blanche. Ich persönlich hielt die Nummer für eigensinnig und gefährlich.


Ich liebe die leisen Töne der Bühnenmagie. Ich habe jahrelang den Trick mit den sich verhakenden Ringen geübt, bis niemand mehr den Moment sah, in dem sie ineinander glitten. Ich habe ein gutes Händchen für Mentalistenstücke - die richtige Karte aus einem Stapel zu ziehen, oder mir den Inhalt eines Zettels aus dem Publikum zu merken, während ich so tue, als lese ich den vorherigen vor; mit dem richtigen Tempo, der richtigen Musik und der richtigen Assistentin können Sie die Aufmerksamkeit des Publikums für Stunden fesseln, und Sie brauchen kaum mehr als einen Hut und ein wenig Spielzeug dafür. Es ist faszinierend, wie selten Menschen an das Offensichtliche denken; sie freuen sich, drei Seiten eines Kastens solide zu wissen, und fragen gar nicht erst nach der vierten, die immer von ihnen abgewandt ist. Menschen können sich vorstellen, dass ein Magnet an einem Gummiband im Ärmel hängt, aber nicht, dass dieses Band wiederum von einem unsichtbaren Faden am Finger des Zauberers betätigt wird. Und sie schwören Stein und Bein, dass Sie sie nie berührt haben, keine zwei Minuten, nachdem Sie ihnen bei der Begrüßung beiläufig die Hand gaben.


Philbert aber wollte nur die lauten Töne - je schriller, desto besser. Die Männer, die sich überlegten, ob sie ihren Lohn nicht eher für einen Abend im Jockey mit Kiki oder eine Zechtour am Carre-four Vavin sparen sollten, wollten Blanche und mich von Speeren und Schwertern durchbohrt sehen, sie wollten Flammen und Blitze, Elefanten und Strauße, und zehn nackte Tänzerinnen dazu; und Philbert wollte ihr Geld, und zwar mehr als alles andere.


Also übten wir.


Wir nutzten die Möglichkeiten, die das Bobino uns bot, und ersetzten den alten Schwebetrick, bei dem Blanche unter wehenden Tüchern verschwand, durch die eindrucksvollere Variante, bei der Gesicht und Füße unbedeckt blieben und sie nicht von mir, sondern einer Mechanik hinter dem Vorhang in die Luft gehoben wurde. Blanche mochte diesen Trick wegen des Märchenkleides, das sie dazu trug und das sie wie die schlafende Prinzessin Perraults aussehen ließ, und ich freute mich, mein Geschick mit dem Reifen unter Beweis stellen zu können. Eine Hebebühne kann jeder betätigen; es aber so aussehen zu lassen, als kreise ein Reifen um eine schwebende Frau, erfordert etwas mehr Geschick.


Die Hypnotisierte steigt empor und wieder herunter, dann lässt der Prinz von dem Spiel ab, küsst sein Dornröschen, und sie erwacht.


Das Publikum nahm Philberts Änderungen dankbar auf, und mit den Einnahmen stieg seine Stimmung. Wir für unseren Teil versuchten, die Not zur Tugend zu machen, und Philberts Liebe zum Kitsch eine Reise durch die Zeitalter als Thema zur Seite zu stellen. Blanche huschte nach fast jedem Trick hinter die Bühne, um sich umzuziehen, und ich unterhielt die Menge mit kleineren Kunststücken, bis ich wieder die Rolle eines Barrikadenstürmers der Julirevolution, eines Höflings des Sonnenkönigs oder eines römischen Tribuns annahm, um ein weiteres Kapitel aus der großen Geschichte zu erzählen, wie zwei Menschen gegen alle Widerstände zusammenfinden.


Mein Lieblingsstück ist das des verzweifelten Malers, der auf einer leeren Bühne ein sehnsuchtsvolles Portrait seiner Liebsten aus dem Gedächtnis malt, während das Streichquartett mit ihm klagt, bis die Angebetete wie aus dem Nichts durch die Leinwand bricht und ihn in die Arme schließt.


Blanches Geschicklichkeit kommt ihr auch als Opfer des finsteren Kerkermeisters zugute, wenn ich Metallplatten durch sie gleiten lasse und bald ihren Kopf zur einen, die Hüfte zur anderen Seite verschiebe. Dieser Trick wird immer gut aufgenommen, weil er eigentlich keiner ist und alles vor den Augen des Publikums geschieht, das nur nicht glauben mag, was es doch sieht.


So lief es also Tag für Tag, und selbst die unsägliche Land-der-Pharaonen-Nummer klappte entgegen meiner Befürchtungen sechs Mal in Folge. Sechs Mal standen wir im Licht der Kohlebogenlampen und verneigten uns, und sechs Mal konnte ich fühlen, wie Blanches Herz ihr vor Freude bis zum Hals schlug, während Philberts Männer die Begleiterscheinungen dessen, was wir angerichtet hatten, zusammenfegten. Und sie so zu sehen - Blanche, nicht die Arbeiter -, ließ mich alle Zweifel, die ich hatte, vergessen.


Dann kam der siebte Abend. Der Sonntag, die Abschlussvorstellung. Und mit ihm das ganze Missgeschick.


Romeo und Julia im Land der Pharaonen entstand eines Mittags im Café de la Rotonde, als wir verzweifelt nach einem Ersatz für die Schneewittchennummer suchten, mit der wir uns in Montmartre unsere Sporen verdient hatten und der Blanche ihren Bühnennamen, Blanche-Neige, schuldete. Damals hatten wir einen gläsernen Sarg für sie gehabt, und einen Zwerg als Totengräber obendrein, und ich hatte einen klassischen Entfesselungstrick vorgeführt, um sie zu retten. Das Ganze war vor allem ein Märchen gewesen, ein Schauspiel. Philbert aber wollte den Zeitdruck, den Nervenkitzel; der Zwerg war entgegen seiner Beteuerungen nicht mehr auffindbar, und so hatten wir mit unserem alten Grundsatz gebrochen, keinen Trick aufzuführen, der einen von uns jemals in Lebensgefahr bringen könnte. Blanches Sarg wurde zu einem metallverstärkten Sarkophag umgebaut, der mittels eines reichlich spektakulären Tanksystems mit Sand gefüllt werden konnte. Mir selbst baute man ein Gegenstück, das jedoch einen entscheidenden Unterschied aufwies: Es hatte eine aufklappbare Rückwand (deshalb durfte das Publikum auch ihren Sarkophag untersuchen, nicht aber meinen). Lassen Sie mich zunächst erklären, wie der Trick im Idealfall funktioniert:


Blanche wird nach einer kurzen Umbaupause von zwei Sklavinnen auf die Bühne geschoben. Sie ist eine ägyptische Prinzessin, die sich augenscheinlich das Leben nahm, und nur die fast völlige Nacktheit der beiden Sklavinnen lenkt davon ab, dass sie selbst so gut wie keine Kleidung trägt, dafür reichlich Glitzer und nilblauen Lidschatten. Dass sie trotz allem mit ihrem weißblonden Haar in etwa so ägyptisch wie die Schneekönigin persönlich aussieht, hat noch nie jemanden gestört. Zur Linken und zur Rechten der Bühne drohen die beiden aufrechtstehenden Sarkophage, so tödlich und strahlend wie stahlgefasste Bernsteintropfen.


Ich betrete die Bühne als Prinz, wozu ich meinen blauen Umhang zugunsten eines albernen ärmellosen Hemdes ablege, das mit allerlei AnchKreuzen und Sonnenemblemen bestickt ist. Wie Blanche bin ich barfuß und trage weite, geschlitzte Beinkleider - so sieht das Publikum den Menschen in mir und kein geheimnisvolles Wesen mit Ärmeln voller Gurte und Hosen voller Verstecke (außerdem müssen wir uns danach nicht den Sand aus den Schuhen schütteln). Ich entdecke meine vermeintlich tote Liebste, und nach einem kurz gehaltenen dramatischen Akt (ich bin kein allzu guter Darsteller großer Emotionen) bereite ich mich auf meinen eigenen Tod vor. Eine der Sklavinnen reicht mir den Tonkrug mit Cleo, unserer zahmen Python, und ich spiele zu den östlichen Weisen des Klarinettisten, als ließe ich mich beißen, und stelle mich in meinen Glassarkophag, worauf mich die Sklavinnen unnötigerweise festbinden (das Publikum erwartet das einfach), den Deckel schließen und sich entfernen.


Das Licht changiert, Blanche erwacht. Sie findet ihren Prinzen reglos und verfällt in Trauer. Blanche weigert sich, mit Cleo zu arbeiten - die beiden sprechen einfach nicht dieselbe Sprache -, dafür ist ihre schauspielerische Leistung um so überzeugender, wenn sie sich an mein Gefängnis schmiegt und mir Lebewohl sagt. Ihr Tanz vor den Fenstern des Tanks gibt mir Gelegenheit, mich unauffällig meiner Fesseln zu entledigen. Danach wirft sie sich stolz in Pose, betätigt den Hebel, der den Sand hinabrieseln lässt, zieht eine weiße Leinenrolle von der Decke und geht davon. Die Leinenrolle wirkt wie ein Leichentuch; gleichzeitig gehen Scheinwerfer hinter mir an, und man sieht nur noch meinen Schatten auf dem Tuch und den Schatten des Sands, der sich zu meinen Füßen sammelt und langsam, aber stetig steigt.


Der Moment, in dem sich das Tuch senkt und das Schlagzeug einen kurzen Tusch spielt, ist aber auch der Moment, in dem ich den Tank mit einem knappen Schritt durch die Rückwand verlasse und mich hinter ihn stelle, damit es im nächsten Augenblick, wenn der Scheinwerfer erstrahlt, auf der Leinwand so aussieht , als wäre ich noch gefangen. Alles, die Größe des Tanks, die gläsernen Wände, die Entfernung der Lichtquelle, der Einsatz der Musiker, die Klappe in der Rückwand, ist so sorgfältig aufeinander abgestimmt, dass die Illusion völlig glaubhaft wirkt. Sechs Tage hatte ich nur ein paar Handvoll Sand in die Haare bekommen und hinter dem Kasten posiert, bis wir zum Finale den toten Prinz wieder erwachen ließen, um dem Paar und dem Publikum sein Happy End zu bescheren - et amor vincit omnia .


Am siebten Tag aber ließ sich die Rückwand nicht öffnen.


Ich war für einen Moment einfach verdutzt und trat ein weiteres Mal auf den kleinen Fußschalter, der den zweiflügeligen Rücken des Tanks nach hinten aufschnappen lassen sollte (wir brauchten diese Sperre, damit die Wand nicht von selbst unter dem Druck des Sands aufschwang). Das war recht gefährlich, denn mir blieb nicht viel Zeit - abermals passierte nichts, und dann war es endgültig zu spät, der Tusch war gespielt, der Scheinwerfer ging an, das Publikum sah, wie es sein sollte, meine Silhouette, und Blanche war schon auf dem Weg zum anderen Sarkophag auf der gegenüberliegenden Seite der Bühne.


Ich aber war noch gefangen, und der Sand rieselte stetig.


Ich war mir nicht sicher, ob Blanche den Fehler bemerkt hatte, denn meine Besorgnis störte meine sonst so feinen Sinne. Vielleicht waren auch ihre Gedanken in Aufruhr. Wenn sie sich an den Zeitplan hielt, betrat sie soeben den anderen Sarg - der, wie mir und sicher auch ihr schmerzlich bewusst war, keine aufklappbare Rückwand besaß -, um sich lebendig mit ihrem Liebsten begraben zu lassen. Die Sklavinnen schlossen den Deckel und legten den Hebel um. Der Sand begann in Blanches Tank zu strömen, als der in meinem mir schon zu den Hüften reichte. Dann wurde auch über sie ein Tuch gezogen, und Scheinwerfer malten ihre Umrisse darauf.


Ich hatte zwar die Arme frei, durfte sie aber noch nicht bewegen, um mich nicht zu verraten. Selbst wenn der Schalter noch funktionieren würde, hätte ich mittlerweile ernste Probleme, meine Beine aus der steigenden Flut zu ziehen. Fieberhaft suchte ich nach einem Ausweg. Von fern hörte ich das Spiel des Orchesters, das sich dramatisch zum Erwachen des Prinzens vorarbeitete - zu langsam für mich, denn der Sand stieg schneller, als wir für einen leeren Tank berechnet hatten. Ich war zum Abwarten verdammt.


Noch hatte niemand die Nummer abgebrochen. Die Tänzerinnen standen abseits, hinter dem Vorhang, und von Philbert, dem großen Meister in Frack und Zylinder, erhaschte ich nur einen Schatten; wahrscheinlich kaute er wie immer auf seiner Zigarre und hatte entweder den Fehler nicht bemerkt oder schwitzte wie wir Blut und Wasser. Oder er hielt alles für einen guten Witz und amüsierte sich königlich.


Da fasste ich den Entschluss, die Regeln zu brechen.


Keine echte Magie.


Das war immer Teil unseres Kodex gewesen; der oberste Leitsatz der verborgenen Welt. Ebenso, wie gewöhnliche Varietékünstler ihre Geheimnisse hüteten, hütete die Société die ihren. Sich auf eine Bühne zu stellen und bloß so zu tun , als zaubere man, musste aber ihren zynischen Sinn für Humor getroffen haben, denn bislang hatte man uns nicht behelligt. Uns war immer bewusst gewesen, dass dieses Leben vorbei sein würde, sobald wir die Regeln missachteten. Die Augen und Ohren der Société waren überall, und die Anwendung großer Magie war wie ein Leuchtfeuer für ihre Agenten. Sie sahen es am Horizont blitzen, rochen es wie den Rauch eines Waldbrands, oder spürten es in ihren Träumen.


Ich wartete angespannt und bereitete mich vor. Alles musste wie ein Teil der Nummer aussehen. Auf keinen Fall durften die Leute von ihren Stühlen springen und davonlaufen - das wäre das Ende für uns, nicht nur in beruflicher Hinsicht.


Als das Orchester eine neue Tonlage anschlug, bewegte ich, für alle deutlich zu sehen, meinen Arm. Der Sand reichte mir nun bis zur Brust. In Blanches Kabine musste er in etwa ihre Taille erreicht haben. Ich tat, als wäre ich noch benommen, käme erst allmählich zu mir, dann begann ich, mir die Fesseln, derer ich mich in Wahrheit schon lange entledigt hatte, von den Handgelenken zu streifen. All das geschah für das Publikum; die Zuschauer sollten nie sicher sein, ob sie Zeuge eines gespielten oder echten Befreiungsversuchs wurden. Der Schatten auf der Leinwand bekam die Hände frei und reckte sie hilfesuchend nach oben, als der Sand schon sein Kinn erreichte. Ich schloss Mund und Augen und wartete darauf, dass sie bedeckt sein würden. Nur eine Hand des Prinzen regte sich noch und zuckte flehentlich umher. Dann wurde auch sie von Dunkelheit geschluckt. Das Publikum, das konnte ich spüren, hielt den Atem an.


Ich verließ die Kabine.


Es war eigenartig, dieser Moment, in dem ich vor aller Augen die Naturgesetze außer Kraft setzte, selbst wenn die Menschen nicht begriffen, was gerade geschah. Ich hoffte inbrünstig, dass niemand mich bemerkte, wie ich in den Schatten hinter Blanches Sarkophag aus dem Nichts erschien und mich auf den Boden kauerte. Woran ich nicht gedacht hatte, war, dass der Sand in meinem Tank über dem plötzlich entstandenen Hohlraum zusammensackte und das Publikum es auf der Leinwand deutlich mitansehen konnte. Unruhe breitete sich aus.


Als mein Blick sich klärte, schaute ich in die verdutzten Augen eines Bühnenarbeiters, der sich, wie ich, hinter einigen strategisch platzierten Kulissen versteckt hielt. Hatte er mich gesehen? Oder vielmehr, hatte er nicht gesehen, wie ich, in der geschickten Manier eines Einbrechers, von Schatten zu Schatten gehuscht war, wie ich es die Abende zuvor getan hatte? Keine Zeit, darüber nachzudenken, denn nun lief ein aufgeregtes Gemurmel durch die Ränge. Ich bedeutete dem Arbeiter, zurück an seine Arbeit zu gehen, denn jeden Moment musste der vereinbarte Blitzeffekt kommen. Er zögerte kurz, gehorchte dann aber. Es blitzte, und das weiße Tuch vor Blanches Tank schnellte an seiner Rolle empor.


Im Publikum brach beinahe Panik aus, als offensichtlich wurde, dass Blanche sich immer noch in ihrem Gefängnis befand. Die Überraschung war kalkuliert, doch heute drohten die Emotionen der Gäste unserer Kontrolle zu entgleiten; viele fühlten, dass etwas nicht stimmte, fast so deutlich, wie ich nun Blanches Angst fühlen konnte. Der Sand hatte ihren Hals erreicht - wir hatten keine Zeit mehr zu verlieren.


Ein weiterer Blitz, ich verließ mein Versteck, präsentierte mich kurz dem aufjubelnden Publikum und packte dann den Hebel an Blanches Sarkophag, der den Deckel an der Vorderseite aufstemmte. Ein Berg glitzernden Sandes ergoss sich auf die Bühne. Blanche machte einen Schritt und hob die Arme; ich reichte ihr die Hand, damit sie heraussteigen konnte. Die Geigen jauchzten, und wir fielen uns in die Arme.


Das Publikum erhob sich und applaudierte - die meisten wenigstens. Einige Gestalten aber standen auf und verließen den Saal. Wir verneigten uns, der Vorhang fiel, und bevor er sich wieder öffnete, hatte man uns ein paar Handtücher und etwas zum Anziehen gebracht. Die Bühnenarbeiter warfen uns finstere Blicke zu, denn der Sand, der überall an mir klebte (daran war nur die Bühnenschminke schuld), sprach Bände. Keine Zeit, der Vorhang öffnete sich abermals, das Licht ging an, wir dankten, dankten, einige Blumensträuße wurden Blanche zu Füßen geworfen, und wir lächelten und dankten abermals. Philbert kam auf die Bühne, eine Tänzerin an jedem Arm, und applaudierte uns zu, mit einem Gesicht, das nur schwach seinen Ärger verbarg.


»Mesdames et Messieurs, La BlancheNeige und der unvergleichliche Monsieur Ravi!« Dann fiel der Vorhang ein letztes Mal, und es war vorbei. Philbert starrte uns kopfschüttelnd an. Draußen wurde ein Klavier auf die Bühne geschoben, und die Band stimmte einen Ragtime an.


Wir verabschiedeten uns rasch und taumelten in meine Garderobe, wo Blanche zitternd auf ihren Stuhl niedersank und uns im Spiegel betrachtete.


»Was ist geschehen, Ravi?«


»Der Schalter hat nicht funktioniert. Jemand muss ihn beschädigt haben, oder ein Riemen hat sich gelöst.«


»Du warst im Sarkophag gefangen?«


Ich nickte, und sie umschlang meine Taille. »Oh Ravi! Wenn ich mir vorstelle, wie du in dem Sarg eingesperrt warst!«


Ich strich ihr beruhigend übers Haar. »Ich habe mir nur Sorgen um dich gemacht.«


Sie blickte auf und lächelte zu mir empor. »Das ist süß von dir. Ich wusste, dass du kommen würdest - ich hatte keinen Moment Angst.«


»Es tut mir nur leid, dass es so lange gedauert hat.«


»Die Vorstellung musste zu Ende geführt werden«, pflichtete sie bei. »Du hast alles genau richtig gemacht.«


»Houdini hätte auch nicht abgebrochen«, sagte ich, und sie lachte.


»Hat Philbert etwas gemerkt?«


»Einer seiner Leute vielleicht. Und ein paar Gäste im Publikum - die üblichen, Kinder und alte Frauen. Doch das wird nicht unser größtes Problem sein.«


»Ach, Ravi.« Sie schmiegte sich an mich.


»Man wird bemerkt haben, dass ich einen ... Schritt zu weit gemacht habe. Eigentlich sollten wir nun in unseren Särgen gefangen sein, mit Sand in den Lungen - doch wir sind hier, und wohlauf.«


»Das ist Magie«, lächelte sie. »Der Große Ravi und Blanche-Neige sterben nicht so schnell.«


»Die Société wird kommen und Fragen stellen. Vielleicht werden sie uns verbieten, weiterzumachen.«


»Lass sie nur kommen«, sagte sie trotzig. Dann drehte sie sich von mir weg und suchte etwas in dem Korb, in dem sie ihre persönliche Habe aufbewahrte.


»Ravi?« Sie klang auf einmal sehr ernst. Ich spürte, dass sie etwas im Schilde führte. Als sie gefunden hatte, was sie suchte, und sich wieder umdrehte, hielt sie einen herbstfarbenen Apfel in der Hand. Er sah aus wie einer von denen, die wir in unserer Herberge, dem Jardin, bekamen - aber ich hatte ein ungutes Gefühl bei der Art, wie sie mich ansah.


Dann dämmerte es mir. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.


»Du erinnerst dich an unser Versprechen?«, fragte sie.


»Natürlich. Wie könnte ich es jemals vergessen?«


»Der Zeitpunkt ist gekommen. Ich halte meinen Teil.« Sie biss in den Apfel, kaute und schluckte, nahm aber keinen Moment die Au


gen von mir. Dann reichte sie ihn an mich weiter.


»Dies will ich dir geben«, sagte sie. »Nimmst du es an?«


»Das ist große Magie, Blanche«, zögerte ich. »Vielleicht die stärkste Magie, die es gibt.«


»Es ist mein Wille.«


»Man wird uns das auf gar keinen Fall durchgehen lassen.«


»Hab Vertrauen, Ravi! Was geschehen ist, ist geschehen - das hier macht alles wett.«


»Das tut es in der Tat«, nickte ich. »Aber Blanche ... bist du dir sicher? Hier und jetzt?«


»Hier und jetzt«, bekräftigte sie. »Glaub mir, ich habe lange darüber nachgedacht. Ich habe Jahre für diesen Moment gearbeitet.«


»Und wann wusstest du, dass es soweit ist?«


»Das ist egal«, lächelte sie. »Worauf es ankommt, ist, ich bin bereit. Bist du es auch?«


Ich nickte und streckte die Hand nach dem Apfel aus. Was blieb mir anderes, als zu gehorchen? In ihren Augen war nichts als Freude. Freude, am Leben zu sein, Freude über diesen Moment, und die Vorfreude auf alle Momente, die noch kommen sollten.


»Nimm den Apfel von mir, Ravi. Iss.«


Ich vergaß meine Zweifel. Dies war der Augenblick, auf den ich so lange gewartet hatte. Ich führte den Apfel zum Mund und biss hinein. Er schmeckte wie ein gewöhnlicher Apfel.


Doch gleichzeitig konnte ich sehen, wie ihre Lider schwer wurden - der Zauber begann schon zu wirken.


Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus.


Blanche sank in meine Arme.


»Ravi ...«


Ich hob sie empor und blickte sie an. Sie hatte wieder dieses Lächeln, wie ein Kätzchen, das in die Sonne blinzelt und sich auf dem Boden ausstreckt. Ihr Haar hatte sich in meinen Armen verfangen. Ich erhaschte einen Blick auf uns im Spiegel; in meinem halbbekleideten Zustand sah ich aus wie ein wahnsinniger Inkapriester.


Sie hatte unser beider Schicksal in meine Hände gelegt. Nun lag es an mir.


Ich werde schlafen.


Bring mich zurück ins Jardin, Ravi.


Morgen wecke mich mit einem Kuss. Hörst du?


Wenn ich erwache, fängt ein neues Leben für uns an - und was für ein Leben das sein wird!


Mit diesen Worten fiel sie in Schlaf.




Justine


Bevor Monsieur Ravi im Jardin abstieg, hatte ich mich noch nie mit einem Zauberkünstler unterhalten. Ich habe normalerweise nicht mit solchen Leuten zu tun. Nicht, weil es mich oder gar meine Eltern geängstigt hätte. Wenig von dem, was ich die letzten beiden Jahre am Carrefour Vavin erlebt hatte, war geeignet, es auf den Postkarten zu erwähnen, die ich Weihnachten und Ostern und an Geburtstagen nach Hause schrieb. Auch nicht, weil Alphonse etwas dagegen gehabt hätte; wenn es nach Alphonse ginge, würde ich ohnehin kein Wort mit den Gästen wechseln, außer: Bonjour Monsieur, wie geht es Ihnen heute? Und: Kann ich Ihnen helfen, Madame?


Nein, das Problem mit Zauberern (oder überhaupt den ganzen Künstlern) ist, dass sie nicht in derselben Welt leben wie wir. Sie haben nicht unsere Sorgen und unsere Träume. Sie machen sich den ganzen Tag Gedanken darüber, wie sie uns unterhalten, täuschen und über den Tisch ziehen können. Ein paar schaffen es gelegentlich, einen für ein paar Momente vergessen zu machen, dass man nichts im Magen und keinen Centime in der Tasche hat, und das ist eine Gabe, die mir ein wenig unheimlich ist, obwohl ich sie natürlich auch bewundere. Aber man sollte nicht den Fehler machen, sich ihnen anzuvertrauen. Im Endeffekt könnten die meisten von ihnen kein Omelette zubereiten, wenn ihr Leben davon abhinge.


Oder nehmen Sie die Sache mit den Äpfeln.


Ich bringe die Äpfel jeden Morgen, wenn ich die Zimmer mache. Alphonse lässt sie mich verteilen, weil das seinem Sinn von Gastlichkeit entspricht. Er schert sich nicht viel um die Nöte der Leute, die unter seinem Dach schlafen. Aber ein Apfel zum Start in den Tag, eine kleine Aufmerksamkeit auf einem gemachten Bett, das muss sein. Den Kaffee und die Croissants sollen sich die Gäste schon selbst holen; außerdem will Esmée nicht, dass auf den Zimmern etwas verkleckert wird. Das ist genau die Art von Überlegenheit, die sie braucht: Ich kann den Lachs filetieren und die Tageseinnahmen wegbringen, aber sie traut mir nicht zu, eine Kaffeekanne auf die Zimmer zu tragen, ohne etwas zu verschütten. Mischa sagt, es geht ihr nur darum, dass ich nichts mache, was sie nicht selbst tun könnte. Ich mache mich ja nicht gern über die Schwächen anderer Leute lustig, aber in diesem Fall hat er vielleicht sogar recht.


Ich trug also den Korb mit den Äpfeln nach oben, ganz wie jeden Tag: die kleine, steile Treppe hoch, auf der es immer zu dunkel war und die knarrte wie morsche Schiffsplanken. Dann den engen Korridor entlang, in dem Esmées kostbarer Teppich lag, der noch aus dem vorigen Jahrhundert stammte und aufgeschwemmt und an den Rändern weich war und in der Mitte ausgetreten; hinüber zu dem kleinen Verschlag mit der Bettwäsche. Es passte nicht viel Mobiliar in diesen Flur außer einem Schirmständer, einem winzigen Schränkchen, das Esmée von ihrer Mutter und diese schon von ihrer eigenen geerbt hatte, und der alten Standuhr, die sie in den Winkel neben dem Wäscheschacht verbannt hatte und die fast bis an die Decke stieß, so dass es aussah, als müsse sie sich bücken.


Die Uhr bewachte die Tür des kleinen Trakts, den Alphonse und Esmée bewohnten. Hätte Esmée ihren Kopf durchgesetzt, wären die Tage dieser Uhr gezählt gewesen. Immerhin schlug sie schon nicht mehr die Stunden, weil der Lärm auf den Zimmern sonst ohrenbetäubend gewesen wäre. Doch Alphonse hielt sie aus irgendeinem Grund für wertvoll, und so war sie zum Prunkstück einer archaischen Sammlung von Familienerbstücken geworden. Massen alter Fotografien, ein paar von Alphonse, die meisten aber von Esmée, zogen sich von der Uhr bis zu ihrer Tür und diesseits des Wäscheschachts weiter bis zu meiner eigenen.


Alphonse verlangte von mir, die Uhr täglich aufzuziehen. Meistens tat ich das vor dem Zubettgehen, und die wenigen Male, da ich es versäumt hatte, konnte ich nicht einschlafen, mit dem schrecklichen Gefühl, etwas vergessen zu haben; etwas, das so wichtig war, dass es drohte, mich im Schlaf zu verschlingen. Dennoch mochte ich diesen letzten Teil meines Tagesablaufs nicht, wenn ich den Bauch der Uhr öffnete und ihr in die Eingeweide griff, während die Menschen auf den blassen Fotografien mich dabei anklagend anzusehen schienen, als ich täte ich etwas Unanständiges.


Wir hatten elf Betten in sechseinhalb Zimmern, wie Alphonse es ausdrückte, und dreieinhalb waren gerade belegt. Dieses kleine Kontingent des Jardin war Ergebnis eines weiteren Kompromisses in Alphonses von Unzufriedenheit geprägter Ehe. Eigentlich hatte er immer nur eine Weinbar gewollt, und das Eckhaus am Carrefour Vavin - soviel Gespür hatte er besessen - war eine einmalige Gelegenheit gewesen. Der vorige Pächter, Baty, hatte das Erdgeschoss zu einem der beliebtesten Treffpunkte des Viertels gemacht, und eine große Terrasse und einen Keller gab es auch.


Das Geschäft war über Esmée zustande gekommen, mit der Alphonse seit längerem schon ein Verhältnis gepflegt hatte; länger, als es selbst in Paris schicklich erschien. Esmée war nämlich die älteste Tochter des Mannes, dem das Hôtel de la Haute Loire gehörte, welches die übrigen vier Stockwerke des Gebäudes einnahm. Als dann die olympischen Spiele kamen und alles umgebaut wurde, begann ihr Vater laut über die Zukunft seines Hauses und seiner unverheirateten Tochter nachzudenken, und obwohl es niemals ausgesprochen wurde, war Batys Bar zu Esmées Mitgift geworden - eine Mitgift zu vernünftigen Bedingungen, wie Esmées Vater es nannte, denn er war ein zu guter Geschäftsmann gewesen, als dass er ganz auf seine Pacht verzichtet hätte.


Alphonse hatte dennoch sofort eingeschlagen. Esmée aber, die sich mehr vom Leben versprach, als ihrem Mann und seinen Stammgästen beim Trinken zuzusehen, hatte zur Bedingung gemacht, dass ihr Vater noch das erste Obergeschoss des Hotels obendrauf legte - zu nicht minder vernünftigen Konditionen, verstand sich.


So wurde das Jardin Weinbar, Bistro und Hotel in einem, mit einer eigenen Küche und einem eigenen Zugang zum Boulevard du Montparnasse. Das Haute Loire bekam seinen prunkvollen Eingang am Boulevard du Raspail, wo die Kastanien zweireihig gepflanzt waren, und behielt die restlichen vierzig Zimmer des Gebäudes, die ohnehin ruhiger und schöner waren als alles in unserem Loch hier unten. Manchmal konnte man durch die Decke die Gäste beim Liebesspiel hören.


Doch zurück zu unserem Zauberer.


Monsieur Ravi und seine Assistentin waren schon eine ganze Weile hier und teilten sich ein Zimmer - ob das normal für einen Zauberkünstler und seine Assistentin ist, dürfen Sie mich nicht fragen. Ich versuche mich auch nicht in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen. Ich hatte ihre Namen und Gesichter bloß schon einige Zeit auf den Litfasssäulen am Boulevard gesehen und fand, dass sie ein hübsches Paar abgaben. Als sie letzten Sonntag dann vor unserer Tür standen und freudestrahlend erklärten, sie hätten ein Engagement im Bobino und bräuchten ein Zimmer für die ganze Woche, hatte ich mich gleich an die Plakate erinnert.


Es wäre nun ihr siebter Auftritt in Folge.


Ich stellte die Äpfel kurz auf dem Schränkchen ab, holte mir einen Satz frischer Bettwäsche aus dem Verschlag, legte sie mir über den Arm, schnappte mir wieder die Äpfel und ging zu Monsieur Ravis Tür. Dort balancierte ich den Korb kurz auf der Bettwäsche, klopfte, öffnete, als ich keine Antwort bekam, die Tür mit meinem Schlüssel, nahm den Korb wieder in die Hand, schob die Tür mit dem Fuß auf und trat ein. Erst als ich die Tür wieder hinter mir zugedrückt hatte und mich dem Bett zuwandte, stellte ich fest, dass das Zimmer noch belegt war.


Es sprach für sein Talent als Zauberkünstler, dass Monsieur Ravi es geschafft hatte, unser schönstes Zimmer von Alphonse zu bekommen. Es ist das Eckzimmer direkt über dem Eingang; der Boulevard du Montparnasse verläuft ziemlich genau von West nach Ost, so dass die Morgensonne die Straße erhellt und die Kutschen und die Menschen lange Schatten auf das Pflaster werfen. Der Boulevard Raspail ist um diese Zeit noch schattig. Als ich das Zimmer betrat, war es angenehm schummrig, die Vorhänge waren zugezogen, und ein schwacher Duft von Zimt lag in der Luft, der mir bereits an der Bettwäsche aufgefallen war. Ravis Seite des Betts war leer und wirkte beinahe unberührt. Auf der den Fenstern zugewandten Seite aber lag Blanche, seine Assistentin. Eine Vase mit Rosen stand auf ihrem Nachttisch.


Auf der Bühne nannte sie sich Blanche-Neige. Sie war ein bildhübsches Ding, doch ein wenig zierlich im Vergleich zu den Modellen und Tänzerinnen, die man für gewöhnlich so sieht. Sie hatte eine kleine Nase und winzige Hände. Ich zweifelte nicht daran, dass sie sich ohne Probleme aus den meisten Kästen und Fesseln herauswinden konnte, in die ihr Zauberer sie sperrte; die meisten Handschellen hätte sie sich glatt über die Hüften ziehen können. Ihre Haut war blass wie im Märchen, die Lippen schminkte sie sich immerhin zu den Vorstellungen, allein mit kohlefarbenem Haar war sie nicht gesegnet: Es war so weiß, dass sie tatsächlich wie aus frischem Schnee gemacht schien, und in ihrem Schrank hingen allerhand weiße Kleidchen, die aussahen wie Tutus aus dem letzten Jahrhundert. Mein erster Gedanke, als ich das Zimmer betrat, war aber, dass sie blass wie eine Leiche sei.


»Pardon, Mademoiselle Blanche!«, rief ich verdattert, machte zu meiner eigenen Überraschung aber keine Anstalten, das Zimmer zu verlassen, denn irgend etwas schien mir an der Art, wie sie dort lag, seltsam zu sein. Vielleicht war es, dass sie nicht gleich den Kopf hob, als ich, nicht gerade leise, das Zimmer betreten hatte; vielleicht, dass sich ihre Brust kaum hob beim Atmen. Oder es war das stille Lächeln, das ihre halboffenen Lippen umspielte.


»Mademoiselle?« Vorsichtig machte ich zwei Schritte auf das Bett zu und stellte den Korb mit den Äpfeln und den Leintüchern auf den freien Nachttisch. »Mademoiselle Blanche?« Zaghaft griff ich nach ihrer Hand.


In diesem Moment geschah etwas Eigenartiges mit mir: Es war, als würde ich eintauchen in dieses Meer aus Zimt und Rosen, das das Zimmer erfüllte, und dann war es auf einmal wieder der Morgen vor zwei Jahren, an dem Antoine mich am Place Bazerat hatte treffen wollen - der endlose Morgen, an dem er nicht gekommen war. Ich fühlte mich wieder wie ein junges Mädchen, gerade von zuhause weggelaufen, und kam mir unsagbar albern vor, wie ich dort stand, neben dem Kinderkarussell mit seinen weißen Pferden und Wichteln, in meinem einzigen vorzeigbaren Kleid und meinen besten Schuhen, nur um den Touristen zuzusehen, wie sie Centimestücke in einen Brunnen warfen, um eine allem Anschein nach käufliche Schicksalsgöttin milde zu stimmen.


Ich aber hatte nichts gehabt, um es in den Brunnen zu werfen.


So hatte ich mich nach Arbeit umgesehen, und wo ich schon in Montparnasse war, wo angeblich jeder ein Zuhause fand, war ich geblieben. Weit hatte ich es nicht gebracht seitdem.


»Ich habe den ganzen Tag gewartet, und du bist nicht gekommen«, flüsterte ich, und dann war es vorbei, und ich schrak hoch, weil in dem Moment eine Gestalt aus den Schatten der Vorhänge trat, und einen furchtbaren Augenblick dachte ich, es sei Antoine, der zwei Jahre zu spät gekommen war, um mich zu verhöhnen.


Doch es war nur Ravi. Er hatte etwas Dämonisches in diesem Moment, wie ein Vampir, den ich bei seinem Opfer störte; seine Augen funkelten.


»Monsieur Ravi! Verflixt, was treiben Sie sich da in den Schatten herum! Und wie lange haben Sie schon da gesteckt?« Hastig wischte ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel, denn die verdammte Erinnerung hatte mich eiskalt erwischt.


Ravi reichte mir ein Taschentuch - verfluchte Zauberer, natürlich hatte er vor einem Moment noch keins in Händen gehabt - und lächelte mich entwaffnend an. Alles Dämonische war von ihm gewichen. Er war ein großer, schlanker Mann mit beinahe schulterlangem dunklen Haar, das in der Stirn immer ein wenig durcheinander war, und meistens trug er seine mitternachtsblaue Bühnenkleidung und ein blütenweißes Seidentuch um den Hals. Immerzu trug er weiße Handschuhe, und wenn er sich nicht gerade in den Schatten versteckte, war er ein sehr höflicher, umgänglicher Mann.


Außerdem fand ich, dass er unverschämt gut aussah, doch schon deshalb traute ich ihm nicht über den Weg. Er war einer der Männer, vor denen Mutter mich hätte warnen sollen. Solche Männer haben die Gabe, einen zu betören, so wie andere ein Händchen für Pferderennen haben, und dabei verstehen sie nicht das mindeste von Menschen (oder Pferden). Außerdem konnte ich sein Alter nicht schätzen.


»Sie haben mich erschreckt«, schnappte ich, nahm das Taschentuch aber an und trocknete mir flüchtig das Gesicht. Mittlerweile hatte ich mich wieder im Griff.


»Bitte entschuldigen Sie«, sagte er, als ob er ein kleines Mädchen tröstete. »Ich muss in Gedanken gewesen sein. Auf einmal waren Sie da, und dann wollte ich Sie nicht stören, wie Sie da standen.«


»Bei was hätten Sie mich wohl stören sollen?«, erwiderte ich und versuchte, seinem neugierigen Blick zu entgehen. Er hatte schrecklich hübsche blaue Augen, trotz seines dunklen Haars. Und statt mich aus meiner peinlichen Situation zu entlassen, benutzte er diese Augen, um mich festzunageln.


»Es klang, als hätten Sie gesprochen.«


»Ich habe nur versucht ... sie ...« Ich deutete hilflos auf Blanche, die immer noch in ihren Kissen lag und schlummerte und dabei aussah, als träume sie süße, vielleicht auch wehmütige Träume. »Was hat sie? Warum wacht sie nicht auf?«


Endlich wandte Ravi den Blick von mir ab und sah stattdessen auf seine Assistentin herab. Er verschränkte die schlanken Hände hinter dem Rücken und wippte auf den Zehenspitzen wie ein Gärtner, der überlegt, wo er an einem Strauch am besten die Schere ansetzt.


»Sie wird heute im Bett bleiben«, gab er zur Antwort, und als genüge ihm das selbst noch nicht, fügte er hinzu: »Sie wird erst morgen wieder aufstehen.«


»Fehlt ihr denn etwas? Soll ich einen Arzt rufen, Monsieur Ravi?«


»Nein, Justine, das wird nicht nötig sein. Sie braucht bloß Ruhe.«


»Und der Auftritt im Bobino heute Abend?«


Er sah mich überrascht an, so als habe er gar nicht daran gedacht. »Richtig, der Auftritt. Nun, den müssen wir absagen.«


»Absagen?«, echote ich. »Den Auftritt?« Ein Engagement im Bobino abzusagen, das kam für mich gleich danach, ein Abendessen im Élysée-Palast auszuschlagen. Oder Matisse nicht Modell stehen zu wollen. »Sind Sie ganz sicher?«


»Philbert wird sicher Verständnis dafür haben«, sagte er. »Heißt es nicht, am siebten Tag solle man ruhen? Nun, heute ruhen wir.« Und als wäre damit alles gesagt, drehte er sich weg und stellte sich vors Fenster. Der Klang von Pferdehufen und das Bimmeln der Straßenbahn drang von unten herauf. Früher, hatte Esmée mir erzählt, hatte man von hier einen guten Blick auf den kleinen Platz auf der anderen Straßenseite gehabt, wo sich ganze Familien als Modell feilboten, in der Hoffnung, dass einer der großen Künstler aus der Rue de la Grande Chaumière zu ihnen käme und ihnen ein Mittagessen spendierte. Heute schienen die Maler hauptsächlich vor der Rotonde in der Sonne zu sitzen, und die Kunstakademien wurden von Touristen überrannt.


Nur am unruhigen Spiel seiner Finger in den weißen Handschuhen merkte ich, dass Ravi nicht so gelassen war, wie er vorgab zu sein. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was er mit diesen Fingern Tauben, Hasen und Kartenspielen angetan hatte, und beschloss, mich vor ihnen in Acht zu nehmen. Ich raffte meine Leinen zusammen.


»Nun, Monsieur, wenn Sie mich für den Moment nicht brauchen, dann werde ich mal ...«


Er drehte kaum merklich den Kopf. »Justine, Sie haben Ihre Äpfel vergessen.«


»Ich wollte sie gerade nehmen«, plapperte ich zerstreut und etwas ärgerlich, denn ich hätte sie tatsächlich beinahe stehen lassen. Er betrachtete sie, als sähe er sie zum ersten Mal.


»Sagen Sie, bringen Sie diese Äpfel jeden Tag?«


»Das wissen Sie doch. Einen Apfel jeden Morgen. So will es Alphonse.«


»Einen Apfel für jeden Gast.«


»Das macht einen für Sie und einen für Ihre Assistentin.«


»Auch sonntags, richtig?«


»Heute ist Sonntag, Monsieur.«


»Sie haben ja völlig recht.«


»Möchten Sie, dass ich Ihre Äpfel hier auf den Nachttisch lege, Monsieur?«, fragte ich übertrieben deutlich, denn allmählich wurde es mir zu seltsam, mit Ravi über Alphonses Äpfel zu reden, während Blanche lächelnd in ihrem Bett lag und schlief und unheimlicher wurde, je länger sie da lag.


»Ja bitte. Das heißt, ich werde meinen später essen. Blanche wird, wie ich fürchte, ihren nicht benötigen. Sie können ihn haben, wenn Sie möchten.«


»Gut.« Ich zuckte die Schultern, legte einen Apfel auf den Nachttisch, griff mir einen anderen und biss hinein; nicht, weil ich Lust dazu verspürt hätte, sondern damit er endlich Ruhe gab - ich bin eigentlich kein Apfeltyp und halte es wenn, dann eher mit Birnen.


»Justine!«, rief er abermals und streckte dramatisch die Hand aus. Mir blieb der Bissen im Hals stecken.


»Monsieur?«


»Ich habe es mir doch anders überlegt. Könnte ich bitte Blanches Apfel haben?«


»Diesen?«, fragte ich entsetzt und hielt schützend meine Hand über den Mund. Alphonse hatte die verdammten Dinger abgezählt, und dank Ravis närrischer Wankelmütigkeit hätte ich jetzt einen zu wenig.


»Ja bitte. Keine Angst, geben Sie ihn mir.«


Willenlos reichte ich ihm den angebissenen Apfel. Er nahm ihn die Hand, hob ihn ins Licht, besah sich die Bissstelle und ließ ihn dann so elegant wie ein Taschendieb in seinem Ärmel verschwinden.


Zauberer!


»Sagen Sie, Sie könnten mir nicht zufällig eine dieser hohen Glasschalen besorgen? Sie wissen schon, wie sie sie in der Confiserie haben.«


»Ich könnte Ihnen vielleicht eine Salatschüssel besorgen, Monsieur. Oder eine Tortenhaube.«


»Das wird in Ordnung sein. Ich danke Ihnen, Justine.«


»Zu Ihren Diensten.«


Dann ließ er mich endlich gehen. Schnell hastete ich durch die anderen zweieinhalb Zimmer, die glücklicherweise nicht halb so viele Schwierigkeiten machten, und begab mich dann auf die Suche nach einer Schale für Monsieur Ravi.



Kurztext / Annotation



Paris 1926, ein Varieté am Montparnasse. Eigentlich hatten der Bühnenzauberer Ravi und seine Assistentin Blanche nur ihr harmloses Zauberkunststück im Sinn. Dann aber wird der große Ravi gezwungen, die älteste Regel der Zaubererzunft zu brechen: Vor aller Augen setzt er echte Magie ein.




1. Platz beim RPC-Award 2010, Kategorie Literatur




»Ein wunderschönes Märchen, das auch noch gut ausgeht.«


Helmut Petzold, Bayern 2, 6.03.2010 




Hauptbeschreibung



Justine, die junge Kellnerin des »Jardin«, der bärbeißige Wirt Alphonse und der glücklose Schriftsteller Gaspard - keiner von ihnen weiß, warum sich plötzlich ein seltsames Dämmerlicht über Paris legt.




Die geheime Société, die über alle Magie wacht, ist alarmiert und hat bereits ihre Vertreter entsandt, um den abtrünnigen Zauberkünstler Ravi und seine bezaubernde Assistentin Blanche zu bestrafen. Im »Jardin«, dem kleinen Hotel am Boulevard Raspail treffen sie schließlich aufeinander, um zu klären, was unerklärlich scheint. Der Kampf zwischen Wirklichkeit und Traum, der nun entbrennt, hält nicht nur Gaspard und Justine in Atem, sondern verschlingt die gesamte Stadt: Paris steht still, keine Glocke schlägt die Zeit. Das Pendel im Chor von Saint-Martin-des-Champs schwingt aus, und niemand weiß, ob sich die Welt noch dreht ...




Der Autor hat den Deutscher Phantastikpreis 2008 erhalten und ist der Co-Autor des »Narnia« Rollenspiels.



Biografische Anmerkung zu den Verfassern



Oliver Plaschka, geboren 1975 in Speyer, promovierte an der Universität Heidelberg und arbeitet als freier Autor und Übersetzer. Seine teils fantastischen, teils historischen Romane und Kurzgeschichten gewannen zahlreiche Preise, so wurde u.a. sein Debüt »Fairwater« 2008 mit dem Deutschen Phantastikpreis ausgezeichnet. In der Hobbit Presse erschienen »Die Magier von Montparnasse« und »Das Licht hinter den Wolken«.




Oliver Plaschka

Oliver Plaschka, geboren 1975 in Speyer, promovierte an der Universität Heidelberg und arbeitet als freier Autor und Übersetzer. Seine teils fantastischen, teils historischen Romane und Kurzgeschichten gewannen zahlreiche Preise, so wurde u.a. sein Debüt »Fairwater« 2008 mit dem Deutschen Phantastikpreis ausgezeichnet. In der Hobbit Presse erschienen »Die Magier von Montparnasse« und »Das Licht hinter den Wolken«.

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