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Der Osten ist ein Gefühl

Über die Mauer im Kopf

von Anja Goerz

E-Book (EPUB)
208 Seiten
Sprache Deutsch
3. Aufl.
2014 dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
ISBN 978-3-423-42236-9
 

Kurztext / Annotation

30. Jahrestag der Maueröffnung am 9.11.2019 Die Mauer ist in den Köpfen der Menschen noch nicht verschwunden. Warum ist das so? Warum fühlen sich im Osten sozialisierte Menschen oft so ungerecht behandelt? Haben die Wessis einfach alles plattgemacht und nach ihren Regeln umgebaut? Anja Goerz porträtiert ganz unterschiedliche Menschen. Eingeflossen ist viel Biografisches, erzählt wird aber auch von Motivationen und Haltungen, Verletzungen und Chancen.

Anja Goerz, geboren 1968, ist gelernte Fotografin und seit 1989 Radiomoderatorin. Sie ist auf dem nordfriesischen Festland nahe Sylt aufgewachsen. Heute arbeitet sie beim Radiosender bremenzwei. Sie lebt mit Mann und Sohn in Falkensee bei Berlin.


Beschreibung für Leser

Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet


Textauszug

»Mein Vater hat mich zum Willy-Brandt-Fan gemacht«

Sebastian Krumbiegel, Sänger

Soldaten sind vorbeimarschiert

In gleichem Schritt und Tritt.

Wir Pioniere kennen sie

Und laufen fröhlich mit.

Gute Freunde, gute Freunde,

Gute Freunde in der Volksarmee.

Sie schützen uns're Heimat

Zu Land, zur Luft und auf der See - juch-he.«1

Sebastian Krumbiegel muss nicht überlegen, bevor er das Pionierlied seiner Kindheit anstimmt. »Das kannten alle meiner Generation.«

Es ist noch nicht lange her, da hat der Musiker sich intensiv mit seiner Kindheit und Jugend im Osten beschäftigt. Sein Sohn wollte für ein Schulprojekt Informationen darüber, wie in den DDR-Schulen politische Meinung vorgegeben wurde. Schon in den Kindergärten hingen Porträts von Walter Ulbricht, in der Schule begannen die Lehrer den Tag mit dem Pioniergruß »Seid bereit«, die Antwort der Schüler lautete »Immer bereit«, ab der achten Klasse hieß es zur Begrüßung »Freundschaft!«. Es gab Fahnenappelle auf dem Schulhof, politische Lieder wurden gesungen, und jeder Pionier hatte eine Aufgabe, zum Beispiel Altstoffe sammeln. Sebastian Krumbiegel grinst, als er sich daran erinnert, dass in seinem Geografie-Atlas die BRD und Westberlin weiße Flecken waren. »Natürlich wurde vermittelt, dass die BRD als Klassenfeind ein kapitalistischer Unrechtsstaat war und die DDR ein freiheitlich-fortschrittlicher. Grotesk wurde es, wenn ein Gedicht von Goethe oder Schiller so lange umgedeutet wurde, bis etwa aus einem Vogel, der in die Lüfte steigt, eine kommunistische Grundhaltung des Dichters abgelesen werden konnte.«

Die Eltern standen dieser Art der Wertevermittlung sehr skeptisch gegenüber. Sein Vater machte sich große Sorgen, dass seine Kinder in der Schule womöglich »auf Linie« gebracht würden. Selbst nie Parteimitglied, versuchte er seinem Nachwuchs zu vermitteln, dass beides möglich ist: ein kritischer Blick auf das System und das Leben in der DDR. »Mein Vater war mit sich im Reinen, aber will man verurteilen, wenn andere anders gehandelt haben?« Sebastian Krumbiegel erzählt von einem Freund des Vaters, der auf der Buchmesse in Leipzig ein Buch gesehen hatte, das ihn als Wissenschaftler interessierte. Die Frau am Stand durfte es ihm nicht verkaufen, bot aber an, »mal kurz wegzusehen«. »Am Ausgang haben ihn dann zwei Typen festgehalten und meinten: 'Oh, Sie haben gestohlen und auch noch Westliteratur, das sieht aber nicht gut für Sie aus. Aber wir könnten Ihnen ein Angebot machen.' Was soll man denn tun, wenn es darum geht, seinen Job zu behalten?«

Politik war Thema in der Familie Krumbiegel, so lange Sebastian sich zurückerinnern kann. Man schaute die 'Tagesschau', den 'Weltspiegel', hörte 'Deutschlandfunk' und sprach über die BRD und das System, in dem man selbst lebte. »Mein Vater hat mich zum Willy-Brandt-Fan gemacht. Ich bin also auch ein wenig sozialdemokratisch sozialisiert. Mein Vater hat immer gesagt, die ARD tendiert zur SPD, ZDF eher zur CDU. Meine Mutter hat mir geraten: 'Sag immer deine Meinung, aber versuch vorher bis zehn zu zählen und dir zu überlegen, was du willst, damit du keinen Unsinn quatschst.' Für meine Eltern war das eine Gratwanderung, sie haben mir zwar empfohlen: 'Setz dich nicht in die Nesseln', aber auch: 'Bewahr dir eine Haltung.'«

Man hört Sebastian Krumbiegel an, wie stolz er darauf ist, dass seine Eltern zu diesem System Distanz bewahrt haben. Er erzählt begeistert von den Eingaben, die sein Vater schrieb, als 1968 die Unikirche in Leipzig gesprengt wurde, in der seine Eltern geheiratet hatten. »Ulbricht sagte, ein sozialistischer Platz braucht keine Kirche. Mein Vater hat später seine Stasiakte eingesehen und festgestellt, dass er wegen dieser Eingaben als Wissenschaftler, als Forscher nicht weiterkam.«

Krumbiegel ist vorsichtig, wenn es darum geht, über Ost und West zu sprechen. Er will keine Gräben vertiefen, die mögli


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