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In jenem besagten Sommer

In jenem besagten Sommer

von Elizabeth Musser

Hardcover
340 Seiten; 20.5 cm x 13.5 cm
Sprache English
1. Auflage
2019 Francke-Buch; Uitgeverij Kok
ISBN 978-3-96362-041-6
 

Hauptbeschreibung

Wie aus heiterem Himmel wird auf die Bestsellerautorin Josephine Bourdillon ein Attentat verübt. Am helllichten Tag. Auf der Intensivstation kämpft sie um ihr Leben. Eine erste Spur scheint gefunden, als die Töchter der Polizei Drohbriefe übergeben, die sich in der Fanpost der Autorin finden. Doch die Ermittlungen kommen ins Stocken.
Auch die Familie rätselt, wer dieser liebenswerten, zurückgezogen lebenden Frau so etwas Schreckliches angetan haben könnte. Dabei stoßen die Töchter auf ein Ereignis, das viele Jahre zurückliegt. Aber keiner der Beteiligten will so recht über jenen besagten Sommer reden, in dem Unfassbares geschehen sein muss. Die Ereignisse von damals sind im Gedächtnis der Familie wie ausgelöscht. Liegt hier der Schlüssel für die Aufklärung des Attentats?


Erstes Kapitel

Kapitel 1

An einem Freitag im Oktober 2015
Asheville, North Carolina
Henry

Hab schon vielen Leuten das Licht ausgeknipst, aber ausgerechnet dieses Mal musste etwas schiefgehen. Und zwar so richtig.
Mein Kontakt hatte mir den Zettel mit den detaillierten In-
struktionen für diesen Job geschickt und ich hatte sie mir sehr genau angesehen. Und tatsächlich, die Frau kam aus der Bibliothek. Das Haus war für Halloween völlig überladen, mit Kürbissen in allen Größen und Farben, die mir in meinem Versteck Grimassen schnitten. Die Frau lief die Straße entlang, die alte Basilika im Rücken, guckte nach links und rechts und ging dann über die Haywood Street in Richtung Stadtzentrum. Kein Mensch war zu sehen an diesem Freitagnachmittag, genau, wie es auf dem Zettel gestanden hatte. Die Frau bog in die schmale Gasse ein, an deren Ende ich wartete, gleich bei ihrem Auto, ein echt schöner Mercedes war das. Jetzt, wo ich sie von Nahem sah, zögerte ich dann doch – sie sah überhaupt nicht wie eine Kriminelle aus, sondern wie eine ganz normale Frau mittleren Alters, gut aussehend dazu, mit einer schwarzen Laptoptasche. Total schnell und entschlossen war sie unterwegs, so als wüsste sie, was als Nächstes kam, und wollte möglichst schnell dorthin.
Das galt vielleicht für andere Tage, aber nicht für heute ...
Ich hatte die Knarre im Anschlag und zielte wie geplant. Als sie mit dem Schlüssel die Tür von ihrem Mercedes aufmachen wollte, drückte ich ab.
Genau in dem Moment hörte ich, wie ein Kind am anderen Ende der Gasse rief: „Mrs Bourdillon! Sie haben vergessen ...“, und die Frau drehte sich um, während die Kugel lautlos durch die Luft schnitt und sie rechts am Kopf traf, anstatt wie geplant voll von hinten in den Schädel zu donnern. Aber sie ging zu Boden und eine Blutlache entstand, während aus der Kinderstimme – ein Mädchen – ein gellender Schrei wurde. Hätte eigentlich in Panik verfallen müssen – ohne die Pillen und alles –, aber ich blieb ruhig. Drehte mich einfach um und verschwand um die Ecke durch eine Gasse zu meinem Auto. Niemand hatte mich gesehen, weil alle zu der Frau hinstürzten, und ich hätte mir schön auf die Schulter geklopft, wenn ich nicht damit beschäftigt gewesen wäre, bloß nicht auf meinen Pick-up zu kotzen.


Samstagmorgen

Hinterher hatte ich immer denselben Traum.
Pa rief mich zu sich und wir fuhren in den Laden, wo ich zuerst eine Flasche Limonade und eine Tüte Chips kaufte, so als wäre ich irgendein stinknormaler Jugendlicher, und dann kam Pa rein, mit dem Strumpf über dem Kopf und zeigte mit der Knarre auf den verängstigten Kassierer, der aber noch so beisammen war, dass er irgendeinen Knopf unter der Ladentheke drückte, und dann kam die Polizei und pustete Pa vor meinen Augen das Gehirn raus.
Mit einem Schrei wachte ich auf. Wenn es doch nur ein Traum wäre.
Im Motel machte ich auf dem Weg zum Klo den Fernseher an. Ich war müde wie ein Stein. Nach jedem Abschuss gab ich mir derart die Kante, dass ich einen Filmriss hatte. Ich nannte es „Abschuss“ wie Pa früher, als hätten wir einen Hirsch erlegt oder einen Elch anstatt einen eben noch quicklebendigen Menschen. Mein Kopf dröhnte, als hätte ich mir die Kugel eingefangen anstatt sie. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, betrachtete im gesprungenen Spiegel meine roten Augen und die Bartstoppeln, fuhr mir übers Kinn und sagte laut: „So, das wäre geschafft und das Geld ist bald auf dem Konto. Rechtzeitig für die OP.“
Ich versuchte mich an einem Lächeln, aber stattdessen füllten sich meine Augen mit Tränen. Also spritzte ich mir noch mehr kaltes Wasser ins Gesicht. Meine kleine Reiseapotheke lag verstreut um die Toilette auf dem fleckigen Linoleum. Ich griff nach ein paar Aspirin, warf sie mir rein und holte dann Rasierer und Rasierschaum heraus. Den Wasserhahn ließ ich laufen, bis das Wasser warm wurde. Aus dem Zimmer hörte ich den Jingle der Morgennachrichten.
„Die Top-News des Tages: Die bekannte Romanautorin Josephine Bourdillon liegt noch immer auf der Intensivstation des Memorial Campus of Mission in Asheville und kämpft ums Überleben ...“
Mit einem Knall landete der Rasierer im Waschbecken. Ich schnappte mir das dünne weiße Handtuch und stürzte zum Fernseher. Noch im Laufen wischte ich mir den Rasierschaum aus dem Gesicht und lauschte der Reporterin – einer jungen Blondine, die wahrscheinlich gerade erst mit der Ausbildung fertig geworden war und vor einem Krankenhaus stand. „Wie es heißt, handelt es sich um einen Mordversuch. Miss Bourdillon hatte gerade die Pack Memorial-Bibliothek verlassen, wo sie wie jeden Freitag um vier Uhr nachmittags Vorschulkindern vorlas, als sie niedergeschossen wurde. Weitere Angaben machte die Polizei bisher nicht ...“
Mein Magen krampfte sich zusammen und drückte den Alkohol und die Pizza der vergangenen Nacht nach oben. Ich rannte zum Klo und kotzte. Dann fluchte ich und brüllte viel zu laut für die dünnen Motelwände. Konnte mich aber noch gerade so davon abhalten, mit der Faust ein Loch hineinzujagen.
Was jetzt, verflixt?
Die zweite Hälfte, wenn die Sache erledigt ist. Per Einschreiben, wie immer, vier Tage danach. Dieselbe Stimme am Telefon, derselbe Kontakt, dieselbe Zahlung, dieselbe Versandmethode. Nur die In-
struktionen kamen sonst nicht auf Papier, vor allem nicht auf Briefpapier mit kleinen Blümchen am unteren Rand. Ich fischte den Zettel aus dem Aschenbecher, in dem ich ihn eigentlich verbrennen wollte, und steckte ihn zurück in meinen Arbeitsanzug.
Im Fernsehen ratterte die Reporterin die Auszeichnungen der Frau herunter, aber ich konnte nicht zuhören. Ich dachte nur: Du musst krepieren, Lady. Du musst einfach. Sonst kriege ich das Geld für Jase nicht. Tut mir leid. Aber es geht nicht anders.


Samstagmittag
Paige

Sie lag auf dem Rücken, den Mund halb offen mit einem Schlauch darin. Ihr Kopf war auf der rechten Seite kahl rasiert, dort, wo die Kugel eingetreten war. Und jetzt sah sie aus wie eine Leiche, die man gerade erst angefangen hatte, in eine Mumie zu verwandeln. Der Kopf war bis über die Augen und kurz vor der Nase verbunden. Der Rest ihres Gesichts war extrem blass. Das forcierte Atmen mit maschineller Hilfe erinnerte mich an das Surren des Deckenventilators im Schlafzimmer meiner Eltern. Ziemlich gruselig.
Ich saß neben dem Bett und starrte mit wässrigen Augen auf den Geist, der einst meine Mutter gewesen war. Meine liebenswürdige und sanfte Mutter, Mitte fünfzig, zierlich, dunkle braune Augen entweder voller Mitleid oder Fantasie oder auch ein wenig Verrücktheit. Ob sie sie je wieder öffnen würde?
Koma. Dieses Wort erschütterte mich zutiefst. Ich kannte mich aus mit Komata. Es war das, aus dem die wenigsten Leute erwachten, und wenn doch, dann meist als dahinvegetierendes Wrack. Dass meine Mutter in so einer Lage war, so still, so leblos, so weit weg, wollte nicht in meinen Kopf.
Gestern hatten wir wie immer den Sonnenaufgang von der Ve-
randa unseres Hauses auf Bearmeadow Mountain beobachtet, diesen Blick auf die endlose Berglandschaft, die sich wie ein welliger Teppich auf beiden Seiten des Horizonts ausbreitete. „Wir wohnen hier wie im Paradies“, hatte Momma gesagt. „Jeden Tag dürfen wir dabei zusehen, wie Gott die Berge anmalt.“ Im Frühjahr sahen die Berge grün und weich wie Samt aus, aber wenn der Oktober kam, wurde aus dem Samttuch ein Orientteppich aus Rottönen, Orange und Dunkelgelb.
Ich blinzelte die Tränen weg. Der Kontrast zwischen der Erinnerung und diesem weißen sterilen Krankenhauszimmer, das mit völlig unnatürlichen und technischen Geräuschen und Gerätschaften vollgestellt war, ohne die meine Mutter sofort sterben würde, war kaum zu ertragen.
Bevor ich am Vortag eilig zur Schule aufgebrochen war, hatte ich sie noch freudig abgeklatscht, nachdem ich ihr die letzte Fanpost einer älteren Frau vorgelesen hatte, die in Mutters Geschichten neue Hoffnung schöpfte.
Ich las Mama immer Leserpost vor. Ihr Job war es zu schreiben. Und zu schreiben. Und zu schreiben. Weil sie sich mit den sozialen Medien nicht so besonders gut auskannte, hatte ich seit meinem sechzehnten Geburtstag vergangenes Jahr angefangen, ihre Fanpost zu beantworten und das ganze Social-Media-Zeug zu machen – wie Hannah früher. Natürlich bezahlte sie mich dafür.
Und jetzt wollte es nicht in meinen Kopf, dass tatsächlich jemand versucht hatte, sie zu töten. Ein Attentat, sagte die Polizei. Als wäre meine kleine verrückte Mama die Präsidentin der Vereinigten Staaten. Wer plante denn einen Anschlag auf eine Autorin jenseits der fünfzig? Vielleicht, wenn sie Horrorgeschichten geschrieben hätte oder Schundromane, wenn sie irgendeine Religion diffamiert hätte. Aber Mama? Sie schrieb historische Romane. Gut, sie warf strittige Fragen auf, aber diese waren von einem Präsidenten besiegelt worden, der vor zig Jahren ermordet worden war.
Vielleicht wollte es doch in meinen Kopf. Den Brief gestern hatten wir gern gelesen, aber da waren noch diese handgeschriebenen Briefe in großer Schrift, die sie seit drei Wochen bekam. Man konnte richtig sehen, was sie mit Mama machten. Ich hätte ihn ihr niemals zeigen dürfen. Leserpost las ich immer zuerst. Das meiste kam über ihre Website, über Facebook oder per E-Mail. Aber hin und wieder erreichte sie ein handgeschriebener Brief. Und innerhalb von zwei Wochen hatte sie gleich zwei Stück davon bekommen. Ein Spinner, hatte ich noch gedacht.
Sind nicht Spinner genau die Leute, die ihre Vorbilder umbringen?
Mein innerer Dialog wurde von der Krankenzimmertür unterbrochen. Mein Vater kam herein.
„Daddy!“
„Paige“, sagte er und wir umarmten uns. Eine gefühlte Ewigkeit.
Dann ging er leise zum Bett, als könnte er Mama aus Versehen aufwecken. Wenn es doch nur ginge. Daddy, groß, schlank, rabenschwarzes Haar, obwohl er schon über fünfzig war, nur die Schläfen wurden allmählich grau, was ihm ein sehr charmantes Aussehen verlieh, wie Mama oft sagte. Meine Eltern hatten sich beide gut gehalten. Jedenfalls bis jetzt.
Jetzt huschte mir angesichts seines bleichen Gesichts das Wort hager durch den Kopf. Sonst war es immer so sauber rasiert, aber jetzt war es von schwarz-weißen Stoppeln und hohlen Augen gezeichnet. Er hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan und mich nur kurz mit Momma allein gelassen, um sich einen Kaffee in der Cafeteria des Krankenhauses zu holen. Jetzt stand er vor ihr und sah völlig deplatziert aus, als wäre er im falschen Raum gelandet und würde auf die Frau eines anderen starren.
„Gibt es was Neues?“, fragte ich.
Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht, ob ich noch mehr Neuigkeiten vertragen konnte. Gestern Nacht, kaum drei Stunden nach dem Mordversuch, hatte der Arzt mich und Daddy in ein anderes Zimmer gebeten und gesagt: „Wir beurteilen den Schweregrad eines Komas nach zwei Skalen, der Glasgow-Skala und der Rancho-Los-Amigos-Skala. Die Namen sind nicht weiter wichtig. Wichtig ist das Ergebnis. Eine drei bedeutet wenig Hoffnung auf Besserung. Eine fünfzehn ist der Normalzustand. Wir verwenden solche Skalen, um den Fortschritt unserer Patienten zu messen.“
Er sprach leiser. „Mrs Bourdillons kombinierte Punktzahl betrug in der Notaufnahme vier; das ist bei einem solchen Schädel-Hirn-Trauma ganz normal. Die erste Aufgabe besteht darin, den Patienten zu stabilisieren. Wir haben sie künstlich beatmet und leiten die Flüssigkeit ab. Die Schwellung übt viel zu viel Druck auf das Gehirn aus. Die Hyperventilation kann dazu beitragen, den Druck abzubauen. Sie bekommt aktuell Antikonvulsiva ...“
Daddy schüttelte den Kopf. „Nein, nichts Neues. Obwohl sie die Kugel gefunden haben.“ Das Projektil war direkt durch Mamas Kopf gedrungen und steckte im Parkplatzasphalt. „Vielleicht finden sie so heraus, aus welcher Art von Waffe sie kam.“ Aber Daddy beschäftigte nicht der Gedanke, wie man den Täter finden konnte. Ihn beschäftigte allein die Frage, wie er Mama zurückbekam.
Er setzte sich auf den anderen Stuhl neben ihrem Bett und griff unter der weißen Decke nach ihrer Hand. „Feeny“, flüsterte er – einer seiner Spitznamen für sie. „Kannst du mich hören, Feeny? Wenn ja, dann drück meine Hand.“
Seine Stimme war so verzweifelt, so schwach, so anders, dass mir kurz der Atem wegblieb. Ich rieb mir die Stirn, spürte die ersten Anzeichen eines gewaltigen Brummschädels und sagte: „Ich lasse euch mal allein.“ Dann gab ich Daddy einen flüchtigen Kuss auf die Wange und trat in den Flur hinaus. Meine Stimme hatte kein bisschen anders geklungen als Daddys.
Von einem Augenblick auf den anderen war unsere Welt auf den Kopf gestellt worden.
Ich fuhr zur Cafeteria in die erste Etage und stand vor den warmen Hauptgerichten, als mir meine eigene Stimme vom Fernseher an der Wand entgegenschallte. „Wir verstehen einfach nicht, wieso jemand meiner Mutter etwas antun wollte“, sagte ich dort den Reportern, die uns heute Morgen vor dem Krankenhaus bedrängt hatten. „Wir wissen es nicht“, fügte ich noch hinzu und zog den Kopf ein.
„Der aktuelle Roman Ihrer Mutter, The Mountains Between Us, beschäftigt sich mit brisanten Themen wie der Rassendiskriminierung ...“ Die Reporterin hatte mir das Mikro direkt vor den Mund gehalten. „Glauben Sie, hier könnte ein verstörter Leser seinen Frust an Ihrer Mutter ausgelassen haben, weil er anderer Meinung ist?“
„Ihr aktueller Roman? Ähm, er spielt vor über hundertfünfzig Jahren ...“ Meine Stimme klang so weit entfernt und ich sah ziemlich schrecklich aus, so ganz ohne Make-up und mit ungewaschenen Haaren. Daddy hatte die Kameras von mir weggedrückt, Gott sei Dank, und wir waren durch die automatischen Schiebetüren ins Krankenhaus gegangen. Aber schon da dachte ich insgeheim, der Einzige, der überhaupt infrage käme, ist dieser Spinner, der Mama vor ein paar Wochen geschrieben hat.
In der Cafeteria hielt ich den Kopf gesenkt und griff nach der einzigen Sache, die mich ansprach, einem Chocolate-Chip-Cupcake, bestellte einen Chai-Tee dazu, stellte beides auf das cremefarbene Tablett und schob es über die Metallstangen. Dabei warf ich kaum einen Blick auf das restliche Essensangebot, das für mich genauso reizvoll aussah wie das Zeug in der Schulmensa damals. Etwas anderes brachte ich sowieso nicht hinunter.
„Ermittler der Polizei suchen nun nach Hinweisen auf einen möglichen Täter ...“


Josephine
1966

Sie hatten das Haus voll, lauter wichtige, lachende Leute mit ihren hohen, schmalen Gläsern, in denen die goldene fröhlich machende Flüssigkeit perlte. Dieser Lärm! Terence, der Kellner im schwarzen Smoking, der zu seiner dunklen Hautfarbe passte, kam zu Josephine herüber. „Miss Josephine, wie hübsch Sie wieder aussehen. Kann ich Ihnen was zu trinken bringen? Eine Co...cola vielleicht?“
„Hallo Terence. Bin ich froh, dass du da bist.“ Sie nahm seine Hand und folgte ihm an die provisorische Bar, wo Daddy die Drinks mixte. „Darf ich ein Gingerale haben?“
„Kommt sofort, Engelchen.“
„Verkleidest du dich gern für Partys?“
„Macht mir überhaupt nichts aus, Miss Josy. Gefällt mir sogar recht gut. Raus aus der Arbeitshose und rein in den Smoking.“ Terence arbeitete als Gärtner für meine Eltern und ließ den Garten aussehen, als hätte ihn jemand mit Kamm, Bürste und Nagelfeile zurechtgemacht. Jeder Grashalm stand aufrecht, jeder Busch war akkurat getrimmt. Alle sechs Monate trat er auf den Partys meiner Eltern als Barkeeper in Erscheinung.
„Schaust du gerne zu, wie sich die Leute betrinken?“
„Miss Josy, Sie stellen aber Fragen. Diese feinen Leute betrinken sich doch nicht. Sie haben einen schönen Abend mit ein wenig Alkohol.“ Er reichte ihr ein hohes Glas mit Goldrand, gefüllt mit Eiswürfeln und Gingerale. „Hier, mein Engelchen.“
Terence nannte sie schon immer Engelchen und passte während der Partys auf sie auf. Wieso ihr diese Feiern Angst machten, wusste sie nicht. Vielleicht waren es diese extravaganten Leute in ihren extrava-
ganten Kleidern mit den extravaganten Drinks.
Doch, sie wusste es.
Sie kniff die Augen zu und hörte die quietschenden Reifen, Mommys Schrei und sah, wie Kit und sie gegen den Vordersitz geschleudert wurden.
Daddy fluchte, rieb sich die Schläfen und sah sich mit rot unterlaufenen, weit aufgerissenen Augen um. „Alles in Ordnung?“
Kit drückte ihr die Hand. „Alles in Ordnung, Daddy.“ Aber Josephine schmeckte Blut, weil sie sich auf die Lippe gebissen hatte. Kit sah sie streng an und schüttelte den Kopf, als Josephine anfing zu weinen. „Nichts passiert“, sagte ihre große Schwester noch einmal.
Mommy schluchzte. „Liebling, lass mich fahren. Bitte, lass mich fahren ...“


1968

Sie wollte nicht ins Ferienlager. Nicht in eins dieser „Dann kommst du endlich mal raus“ Ferienlager und überhaupt kein Ferienlager. Sie wollte keine Reitstunden nehmen. Sie wollte nur in ihrem Zimmer bleiben und Detektivgeschichten mit Nancy Drew lesen und ihre eigenen Geschichten erfinden. Nichts mochte sie lieber als die Tür zuzuschließen und in eine andere Welt einzutauchen, mit ihrem Bleistift all die Worte niederkritzeln, die in ihrem Kopf durcheinanderflogen. So viele Geschichten! Wie sollte sie die jemals alle aufschreiben?
„Josephine, Abendbrot ist fertig.“
„Aber ich muss noch meine Geschichte ...“
„Josephine! Sofort!“
„Ja, Ma’am.“
Sie schlurfte nach unten und führte Selbstgespräche. Wenn sie die Szene die ganze Zeit im Kopf wiederholte, dann würde sie sie vielleicht nach dem Essen und den Nachrichten noch wissen ...
Aber nach dem Essen rollte sich Josephine auf dem Bett zusammen und versuchte sich vor der Welt da draußen zu verstecken. Was für eine schlimme Welt! Wieso mussten Mommy und Daddy immer diese Nachrichten gucken? In irgendeinem fernen Land sprengten sich die Leute gegenseitig in die Luft, aber das konnte hier auch passieren, hier in ihrer Nachbarschaft. Erst vor ein paar Wochen waren zwei Männer mit Kapuzen in Francie Lewis’ Haus eingebrochen und hatten ihrer Mutter eine Pistole an den Kopf gehalten.
Jedes Mal, wenn sie Nachrichten schauten, füllte sich ihr Kopf mit neuen Geschichten, aber es waren furchterregende, traurige Geschichten, die sie nicht aufschreiben wollte. Aber es konnte auch hier passieren. Jede Wette. Sie krabbelte unter die Decke und kniff die Augen zu, aber die Schwarz-Weiß-Bilder der Soldaten konnte sie immer noch sehen und die explodierenden Granaten und die Schreie hören. Und sie konnte sich den kleinen Jungen vorstellen, dessen Vater gerade in Fetzen gerissen worden war. Sie konnte ihn fast spüren, fast anfassen. Am liebsten würde sie einfach nur noch weglaufen. Oder sich verstecken. Ja, sie würde sich verstecken.


Henry – Samstagnachmittag

Ich musste schnell nach Hause, bevor Libby wieder ihren Sorgenanfall bekam. Die gute Stimmung hielt immer nur vierundzwanzig Stunden und jetzt waren schon fast sechsunddreißig Stunden vergangen. „Hab wieder einen Job, Schatz. Wie zuvor. Wir kriegen das Geld für seine OP zusammen. Glaub mir.“ Sie wusste nicht, welcher „Nebenjob“ die Krankenhausrechnungen bezahlte. Sie fragte auch nie danach. Gott sei Dank. Aber Libby war nicht dumm. Sie fragte zwar nicht nach, aber sie wusste genau, dass bei zwei richtig dicken Schecks innerhalb eines Monats kaum, nun ja, alles ganz legal zugehen konnte. Jedenfalls machte sie sich andauernd Sorgen deswegen.
Der Fernseher plärrte noch immer die Nachrichten, die Tochter sagte irgendwas über ihre Mutter als Autorin von historischen Romanen und die Reporterin meinte, der letzte Roman sei ziemlich umstritten gewesen.
Ich starrte auf das Display und wartete auf eine Textnachricht von ihm, die mir sagen würde, was ich jetzt tun sollte. Aber keine Nachricht beförderte mich ins Nirvana. Kein Rüffel. Und ich war mir sicher, dass ich in drei Tagen auch keinen Scheck in der Post haben würde.
Die OP von Jase war in zwei Wochen angesetzt. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich Libbys verzweifeltes Gesicht sehen. „Die Versicherung übernimmt wieder nur ein Zehntel der Kosten. Du hast versprochen, dass du das Geld rechtzeitig zusammenkriegst. Die Ärzte sagen, dass sie mit der OP nicht mehr warten können!“
Jase war mit einem Loch im Herzen geboren worden. Drei große Operationen hatten ihn sieben Jahre am Leben gehalten. Diese letzte konnte das Problem endgültig beseitigen, meinten die Ärzte. Das würde womöglich das Ende meiner Karriere als Berufskiller bedeuten und ich könnte mich mit meinem klassischen Job in der Druckerei begnügen. Was für eine Ironie, oder? Tagsüber druckte ich Bücher. Wer weiß, vielleicht hatte ich sogar eins von Miz Bourdillon gedruckt.
„Liest du?“, hatte mich der große Dan, mein Boss, vor ein paar Jahren mal gefragt.
„Nicht so viel. Hab wenig Zeit.“
Er hatte genickt und in seinen stahlgrauen Augen hatte Mitgefühl gelegen. Er wusste von Jase. Nicht von mir, so viel steht fest. Was nur unsere Familie was anging, ging nur unsere Familie was an. Aber ich war zweimal nicht zur Arbeit erschienen, als Libby nicht freibekam und Jase in die Notaufnahme musste.
Und jetzt brauchte er dringend diese OP. Ich wandte mich von dem vermaledeiten Fernseher ab, schloss die Augen und sah das schmale Gesicht von Jase vor mir, voller Sommersprossen, grüne Augen – so hübsch wie die von Libby –, die vor Baseballfieber sprühten. Kurz darauf krümmte er sich und keuchte nur noch, und ich hatte ihn so schnell ich konnte zum Pick-up getragen.
Ich kniff die Augen noch stärker zu und verdrängte den Schmerz. Das Püppchen im Fernsehen sagte irgendwas über Miz Bourdillon. Das Problem war nur, ich wollte nie etwas über die Leute wissen, die ich umlegte. Ich brauchte nur die nötigen Informationen für den Job, und dann war ich weg. Easy. Wenn man in einer Familie von Kriminellen aufwächst, lernt man das eine oder andere. Über die anderen drei Opfer hatte ich genug gewusst, um davon auszugehen, dass sie es verdient hatten. Abschaum. Lügner, Ehebrecher, Diebe. Einer war selbst ein Mörder.
Aber diese Lady war eine Bestsellerautorin. Was sie schrieb, wusste ich nicht, aber es klang nicht danach, als hätte sie eine Kugel verdient. Sie war kein Stephen King oder Salman Rushdie.
Ist nicht dein Problem, Henry.
Auf dem Weg nach Hause legte ich einen Zwischenstopp bei Books-A-Million ein. Die riesigen Buchläden mochte ich eben. Ich ging zickzack zwischen den Regalen, berührte die Cover auf den Tischen und fragte mich, was für eine Geschichte wohl zwischen den Buchdeckeln versteckt war. Ich las nicht viel, hatte ich gesagt, aber manchmal sagte ich so einiges, was nicht stimmte. Manchmal war die Wahrheit in meinem Kopf ganz schön vernebelt.
Ich fand ihre Bücher bei Historischen Romanen. Und nicht nur eins. Beinahe hätte ich eins aus dem Regal genommen. Vielleicht sollte ich mal was von ihr lesen. Bist du verrückt? Verrückt, ja, aber nicht dumm. Jedes Mal, wenn ich das Zeug nicht mehr nahm, wurde ich ein bisschen übermütig. Ich hielt meinen Kopf gesenkt und zog die Baseballkappe tiefer ins Gesicht, steckte die Hände in den Overall und ging zurück zum Auto.
Dort angekommen, las ich die neuen Nachrichten auf dem Handy. Jase ist in der Notaufnahme, schrieb Libby. Sie müssen die OP vorziehen. Ich fluchte. Und keine Nachricht von ihm. Natürlich nicht. Mein Job war es, den Job zu Ende zu bringen. Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte, jetzt, wo halb Amerika auf eine Lady Mitte fünfzig schaute, die irgendwo in einem Krankenhaus in den Bergen von North Carolina im Koma lag.


Elizabeth Musser

Elizabeth Musser wuchs in Atlanta auf. Seit dem Abschluss ihres Studiums englischer und französischer Literatur an der Vanderbilt Universität in Tennessee ist sie als Missionarin tätig. Heute lebt sie mit ihrem Mann Paul in der Nähe von Lyon in Frankreich. Die beiden haben zwei Söhne.

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