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Das Geheimnis des Genter Altars

Das Geheimnis des Genter Altars

Thriller

von Klaus-Jürgen Wrede

Taschenbuch
444 Seiten; 21 cm x 13.8 cm
Sprache Deutsch
1. Auflage
2015 Acabus Verlag
ISBN 978-3-86282-367-3
 

Hauptbeschreibung

Ein toter Freund. – Ein gestohlenes Meisterwerk. – Verschlüsselte Botschaften im berühmten Genter Altar – Und eine ominöse Organisation …

Als Daniel seinen Freund ermordet in dessen Wohnung findet, wird er unweigerlich in die rätselhaften Geschehnisse rund um einen aufsehenerregenden Kunstraub von 1934 hineingezogen.
Mit Hilfe der undurchschaubaren Mara stößt er auf mysteriöse Botschaften in der bis heute verschollenen Tafel des Genter Altars und entdeckt ein unfassbares Geheimnis …

Basierend auf historischen Ereignissen rund um einen der spektakulärsten Kunstdiebstähle aller Zeiten entwickelt sich ein spannungsreicher Thriller, der von Köln über Gent quer durch Europa und tief in das immer noch ungelöste Rätsel des bekannten Genter Altars der Brüder van Eyck führt …

„Ein großartiger Roman des Spieleautors Klaus-Jürgen Wrede („Carcassonne“). Spannend bis zur letzten Seite.“


Biografische Anmerkung zu den Verfassern

Klaus-Jürgen Wrede wurde 1963 in Meschede geboren. Er studierte Musik und Theologie sowie Komposition und Klavier. Wrede ist Gymnasiallehrer, seit 2000 jedoch nebenberuflich als Spieleautor tätig. 2001 gewann sein Spiel „Carcassonne“, das bisher über 10 Mio. Mal in über 30 Sprachen verkauft wurde, den „Deutschen Spielepreis“ und wurde zum „Spiel des Jahres 2001“ gekürt. Seit 2009 ist Klaus-Jürgen Wrede hauptberuflich als Spieleautor tätig und hat bisher mehr als 30 Spiele veröffentlicht.


Textauszug

Leseprobe aus Kapitel I

Gent, 2. Stunde des 11. April 1934

Unvermittelt blieb er stehen und starrte nach oben. Das konnte nicht sein! War es eine Täuschung gewesen? Oder hatte er gerade tatsächlich einen vorbeihuschenden Lichtschein hinter den Fenstern der großen Kathedrale gesehen? Möglicherweise spielten ihm seine Augen in der Dunkelheit nur einen Streich, oder er hatte das Flackern der kleinen Flamme wahrgenommen, die in der Kirche brannte.
Mitten in der Bewegung gebannt, wartete er. Wartete auf ein erneutes Anzeichen, dass er dort wirklich etwas gesehen hatte.
Nichts. Kein Licht, kein Flackern.
Pierre Renard erwachte aus seiner Starre, den Blick immer noch auf das riesige Kirchenfenster geheftet. Schließlich regte er sich und schlich achtsam weiter, dicht an den massigen Mauern der Kathedrale entlang. Er musste sich wieder auf sein eigentliches Vorhaben konzentrieren – die kleine Bäckerei auf der anderen Seite des Platzes. Sie war das Ziel seiner geplanten Dieberei heute Nacht. Daher vermied er es, den großen Platz zwischen Kathedrale und Belfried zu überqueren. Auch wenn Gent um diese Zeit wie eine ausgestorbene Geisterstadt wirkte, so wollte er auf keinen Fall ein Risiko eingehen.
Die Laternen waren verloschen und die beiden bedrohlich wirkenden Türme der Kathedrale waren eher zu spüren als zu sehen – so dunkel war diese Nacht.
Perfekt geeignet für einen kleinen Beutezug.
Pierre drückte sich weiter an der Mauer entlang, als er direkt vor sich unweit der Kirchenmauer die schattenhaften Umrisse einer Limousine zu erkennen glaubte. Ein Auto? Hier in der Nähe der Kathedrale? Er kam kaum dazu, sich zu wundern, denn plötzlich vernahm er Geräusche von der wenige Schritte entfernten Seitentür.
Konnte das ein Tier sein? Etwa eine Ratte oder eine Katze? Oder gar ein anderer Dieb?
Es war niemand an der Tür zu sehen. Er wagte sich näher heran und war sich nun sicher, dass die Geräusche, die eher metallisch klangen, einen menschlichen Ursprung jenseits der Tür haben mussten.
Aber das machte doch keinen Sinn! Schlosser, die nachts an der Kirchentür arbeiteten?
Er stand jetzt unmittelbar vor der Tür, als er plötzlich ein ihm bekanntes Geräusch hörte: das Einschnappen des Schlosses, wenn die richtige Stellung für die Entriegelung gefunden war.
Im nächsten Moment bewegte sich auch schon die dicke Eisenklinke nach unten. Pierre konnte sich gerade noch hinter dem nächsten Mauervorsprung verbergen, als sich die schwere Eichentür Stück für Stück öffnete. Vorsichtig spähte er hinter seinem steinernen Versteck hervor, sah aber nur die ihm zugewandte Tür, welche sich jetzt langsam wieder schloss.
Pierre wartete. Nichts war mehr zu hören. Er reckte den Kopf nach oben, um zu den Kirchenfenstern über ihm hinaufzusehen. Einen winzigen Moment glaubte er wieder einen Lichtschimmer wahrzunehmen. Also hatte er sich doch nicht getäuscht. Er dachte nach. Möglicherweise konnte er hier unbemerkt etwas mitgehen lassen, wenn die Kathedrale schon mal offen war. Sicher ließen sich solch wertvolle Schätze gewinnbringend verkaufen; da reichte vermutlich schon eine Kleinigkeit, die nun denkbar einfach zu bekommen war. Er witterte seine Chance. Das hier war doch viel besser als die Bäckerei gegenüber. Er ging zur Tür und ergriff die eiserne Klinke. Dann hielt er einen Moment lang inne. Auch wenn er viel Erfahrung im Öffnen von Türen hatte, so war diese doch eine ganz besondere Herausforderung. Eine solch schwere Tür verursachte meist knackende Geräusche, die er unbedingt vermeiden musste.
Er schaffte es, sie nahezu geräuschlos zu öffnen – zumindest so weit, dass er gerade so hindurchgleiten konnte. Er hatte sie fast schon wieder geschlossen, da kam das befürchtete Knacken.
Verdammt! Schnell duckte er sich, um hinter der einen Meter entfernten Schwingtür in Deckung zu gehen. Nur einige Glasscheiben im oberen Bereich der Tür gaben den Blick auf den Eingang frei.
Wieder wartete er.
Scheinbar hatte ihn der Eindringling nicht bemerkt, oder er wartete ebenfalls ab – wie bei einem Katz-und-Maus-Spiel, bei dem der verliert, der sich zu früh in Sicherheit wiegt.
Waren möglicherweise sogar mehrere Diebe am Werk? Die Idee war ihm bisher noch gar nicht gekommen, da er selbst ja immer allein unterwegs war. Nun schien ihm diese Möglichkeit sogar recht wahrscheinlich, da ein Kirchenraub schon ein ganz anderes Kaliber war, als ein paar kleine Läden um ihren Tagesverdienst zu erleichtern.
Ihm war etwas unwohl bei dieser Vorstellung, aber zurück durch die Tür konnte er nun nicht mehr.
Er schob sich halb geduckt durch die Schwingtür und bewegte sich geschmeidig wie eine Katze bis zum nächsten Pfeiler.
Dort blieb er stehen. Die Finsternis hier drinnen war noch undurchdringlicher als das dämmrige Licht draußen und er musste seine Augen erneut daran gewöhnen.
Die bedrohlichen Pfeiler hoben sich so wenig vom Dunkel ab, dass sie wie ein Teil davon wirkten. Nur in der Ferne sah Pierre die kleine rote Kerzenflamme des ewigen Lichts leuchten – als eine Erinnerung an die Allgegenwärtigkeit Gottes. Ob er das Ganze nun beobachtete? Pierre hatte kein wirklich gutes Gefühl bei dem Gedanken, hier etwas mitgehen zu lassen. Zwar war er sich eher unsicher, ob er an die Existenz eines Gottes glauben sollte oder konnte, doch hier in diesem Raum meinte er eine Macht zu spüren, die sein Tun genauestens verfolgte. Oder war das nur sein schlechtes Gewissen?
Er schloss unwillkürlich die Augen, um besser hören zu können. Vernahm er da ein Flüstern oder war das nur das Rauschen des Kirchenraumes mit seiner geheimnisvollen Akustik?
Da war es wieder! Der leise Klang verband sich durch den Hall mit der Lautlosigkeit und wirkte wie eine Unregelmäßigkeit der Stille.
Jetzt sah er sie.
Zwei dunkle Gestalten, die sich rechts vom Hochaltar in einer Seitenkapelle zu schaffen machten. Die Seitenkapellen waren rund um den Altar jenseits eines breiten Ganges nebeneinander angeordnet, so gut kannte Pierre diese Kathedrale zumindest.
Die Beiden befanden sich in der St.-Johannes-Kapelle, wo der berühmte Altar der Gebrüder van Eyck aufbewahrt wurde, ein aus vielen Tafeln bestehendes, riesiges Altargemälde. Hinter der geöffneten Chorschranke waren sie schemenhaft durch das verzierte Holzgitter der Kapelle zu erkennen.
Pierre musste näher ran. Er schaffte es unbemerkt bis zum nächsten Pfeiler. Nun konnte er erkennen, dass die beiden Männer am linken Flügel des Altars beschäftigt waren. Viel mehr konnte er von hier aus immer noch nicht sehen. Er konnte mehr erahnen, was die beiden dort taten. Vorsichtig und halb geduckt kroch er weiter bis zum nächsten Pfeiler.
Von hier aus hatte er einen besseren Blick und erkannte, dass der schwere Altarvorhang bis zur Hälfte zurückgeschlagen und der Altar links aufgeklappt war. Einer der Männer stand auf einer Leiter und zog nun eine der gewaltigen Bildtafeln Stück für Stück nach oben, was jedoch ein schwieriges Unterfangen zu sein schien. Der Andere half so gut es ging und drückte mit beiden Händen von unten dagegen. Nach einer Weile hatten sie die schwere Holztafel aus dem Rahmen gewuchtet und setzten sie laut krachend auf dem Boden ab. Der Nachhall erfüllte die gesamte Kathedrale wie ein drohender Donner. Sogar das ewige Licht schien einen Augenblick zu flackern und unruhig seine Mitte wieder zu suchen. Die Männer verharrten eine ganze Weile, bis wieder absolute Stille eingekehrt war. Auch Pierre wartete bewegungslos. Er musste sich ein besseres Versteck suchen, denn sicher würden sie gleich die Tafel durch die geöffnete Seitentür nach draußen bringen und ihn dabei entdecken.
Langsam erhob er sich aus der Hocke hinter dem schützenden Pfeiler. Dabei glitt unbemerkt sein Werkzeug aus der Tasche. Pierre registrierte es erst, als er den Aufprall auf dem Boden hörte, und erstarrte vor Schreck. Auch wenn das darum gewickelte Tuch das Geräusch ein wenig abschwächte, so reichte es doch, um auf ihn aufmerksam zu machen.
Die Männer hatten das Geräusch gehört und schauten jetzt aufgeschreckt in den Kirchenraum. Pierre duckte sich und reagierte instinktiv.
Er bewegte sich behände und geräuschlos auf allen vieren durch die Bankreihe auf die andere Seite des Kirchenraums. Nervös schaute er sich nach einem Versteck um. Einige Meter entfernt befand sich der Beichtstuhl, aber es schien ihm zu riskant, dorthinein zu fliehen – zu einsichtig, zudem wie eine Falle. Er traute sich kaum, seinen Kopf zu heben, um den Standort seiner Verfolger auszumachen. Hier musste er jedenfalls schnellstmöglich weg. Zur Kirchentüre würde er es von hier aus auf keinen Fall schaffen. Er musste sich in der Kirche ein gutes Versteck suchen. Die anderen Seitenkapellen? Der Weg dorthin war zu riskant – mehrere Meter durch den ungeschützten Kirchenraum. Er lauschte angestrengt.
Nichts. Das beunruhigte ihn. Die Männer schienen jedes Geräusch zu vermeiden. Waren sie schon in seiner Nähe?
Die einzige Chance schien ihm die nahegelegene Krypta.
Ohne weiter abzuwägen, huschte er zur Treppe, die nach unten führte. Er war erleichtert, dass das große Eisengitter vor der Krypta geöffnet war, so tastete er sich Stufe um Stufe hinab, noch tiefer in die Dunkelheit eindringend. Hier unten konnte er überhaupt nichts mehr sehen, nicht einmal die eigene Hand, die er tastend ausstreckte.
Unsicher bewegte er sich in diesem absoluten Dunkel weiter, die Hände leicht hin und her bewegend mit gespreizten Fingern, um so das Dunkel besser erfassen zu können.
Er fühlte etwas Kaltes.
Kalten Stein – eine Steinkante in etwa eineinhalb Metern Höhe.
Vermutlich ein Sarkophag.
Er tastete sich an der Kante entlang und tappte vorwärts, bis er auf einen weiteren Sarkophag stieß. Sich an diesem weiterhangelnd, entdeckte er an dessen Stirnseite eine schmale Lücke zur Wand. Pierre fragte sich, ob er wohl hineinpassen würde und ob dies ein brauchbares Versteck sein könnte. Möglichst geräuschlos zwängte er seinen Körper Stück für Stück hinter den Sarkophag, die Hände auf dem Boden abgestützt, als er unvermittelt in etwas Weiches griff. Instinktiv zog er seine Hand zurück. Er begann zu zittern, die Kälte des Bodens hatte schon seinen Körper erfasst. Da vernahm er mit einem Mal Schritte – fast lautlos, nur durch das dezente Knirschen des Schmutzes auf dem Boden zu hören.
Pierre wagte kaum zu atmen. Er lauschte angestrengt. Die Schritte hatten aufgehört. Nicht das leiseste Geräusch war zu hören.
Er wartete eine ganze Weile, versuchte seinen Atem unhörbar zu machen.
Da flackerte plötzlich der schwache Lichtschein einer Gaslampe auf. Er konnte unmittelbar neben seinem Kopf eine tote Ratte erkennen. Sie also hatte er eben ertastet. Er schluckte seinen Ekel hinunter. Nur keine Panik jetzt, versuchte er sich einzureden.
Die Männer, die hier einen Kirchenraub in großem Stil durchführten, verstanden sicher keinen Spaß mit Gelegenheitsdieben wie ihm und waren bestimmt nicht zimperlich mit lästigen Augenzeugen. Hatte er sich vor ein paar Minuten noch die Chance erträumt, hier etwas Wertvolles mitgehen zu lassen, so verfluchte er nun den Moment, als er die Kirche betreten hatte.
Er versuchte seinen Atem wieder stärker zu kontrollieren, um sich durch keinerlei Geräusch zu verraten. Er bemühte sich, die aufsteigende Panik in der zwängenden Enge des Steins im Griff zu behalten. Er musste jetzt ganz ruhig bleiben!
Doch nun hatte er schlagartig das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ihm war, als ob er kaum noch Sauerstoff bekäme, wie in einem Rauchschwall. Aber er konnte im Schimmer der Lampe keinen Rauch erkennen. Dennoch glaubte er ihn förmlich zu riechen, atmete schneller, spürte ein Kratzen auf den Stimmbändern und in der Lunge. Er durfte jetzt nicht husten. Immer wieder schluckte er, um seinen Rachen zu befeuchten. Ihm wurde heiß. War ein Feuer ausgebrochen? Er konnte keine Flammen entdecken – nicht einmal die Andeutung eines Flackerns. Und dennoch wurde ihm heißer und heißer. Bildete er sich das nur ein? Der Schweiß lief Pierre das Gesicht herunter, sein Atem wurde immer schneller. Er begann zu röcheln, bekam kaum noch Luft. Der Rauch war überall um ihn herum, die Hitze unerträglich. Er hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen. Wie durch einen Schleier vernahm er jetzt wieder die Schritte. Auch der Lichtschein schien heller und heller zu werden. War es doch das Feuer?
Pierre spürte die unmittelbare Nähe des Mannes. Er musste direkt vor dem Sarkophag stehen geblieben sein. Doch das nahm er nur noch wie durch einen Filter wahr. Die Hitze war nicht mehr zu ertragen. Er fühlte sich, als ob er bei lebendigem Leib verbrannte und wollte schreien. Doch er bekam keine Luft. Er spürte, dass er erstickte.
Ihm war, als entferne er sich langsam, als nehme er das alles nicht mehr wahr, als befreie er sich von seinem Körper und dem unsäglichen Schmerz.

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Köln, Gegenwart

Daniel dachte an das Feuer. Während ihm die Kälte zunehmend die Beine nach oben kroch, wärmte dieser Gedanke ihn wenigstens für einige Momente. Vermutlich würde er Holz von unten holen müssen, denn er hatte den Kamin eine ganze Weile nicht benutzt. Doch er genoss die wohlige Wärme in seiner Altbauwohnung jedes Mal sehr. Schon von weitem erkannte er die Fenster seiner Wohnung in dem alten Haus mit der Jugendstilfassade zwischen den Blättern hindurch, durch das Gewirr der Äste halb verborgen. Er mochte diese Straße mit ihren prachtvollen Bauten – jedes Haus für sich ganz individuell und doch insgesamt wie eine harmonische Einheit wirkend. Im Sommer sorgten die Boule-Spieler unter den schattigen Bäumen auf dem Mittelstreifen für einen Hauch südfranzösischen Flairs in der mittlerweile sehr hektisch gewordenen Großstadt.
Daniel beschleunigte seinen Schritt, ohne es selbst zu merken, denn er spürte die Kälte schon von überall in den Körper eindringen. Hinter den Häusern drohte eine riesige schwarze Wolkenfront mit einem bevorstehenden Unwetter und sorgte für ein apokalyptisches Licht. Für einen winzigen Moment leuchtete die Sonne auf und die Dächer warfen einen tiefstehenden Schatten, wie eine unpassende Schablone, auf die gegenüberliegende Häuserfront, bevor alles wieder im düsteren Grau versank. Es war einfach unglaublich kalt und ungemütlich für Anfang April. Der Gedanke an seine Wohnung und den Kamin trieb ihn weiter. Daniel fühlte sich müde und abgeschlagen. Er dachte an Juri, während er die schwere Haustür aufschloss. Sie ließ sich nur unwillig und mit einem schabenden Geräusch öffnen. Ein paar Zeitungen hatten sich unter ihr verklemmt.
Er schob sie mit dem Fuß beiseite und hielt einen Moment im Treppenhaus inne, als er die Tür ins Schloss gleiten ließ. Die Ruhe dieses alten Gemäuers wirkte gleichzeitig beruhigend und bedrohlich auf ihn. Abgeschirmt von der hektischen Stadt auf der anderen Seite der Tür fragte er sich, was wohl alles gerade dort draußen passierte – genau in diesem Moment. Er fühlte sich allein in dem großen Haus und auf eine unbestimmte Art plötzlich fremd in der doch so vertrauten Umgebung.
Dann war Juri vermutlich noch nicht zu Hause. Eigentlich war er froh darüber, denn so konnte er sich noch ein wenig ausruhen, bevor sie sich treffen würden. Sie hatten sich für diesen Abend verabredet, nachdem Juri gestern aufgeregt vor Daniels Tür gestanden hatte. Irgendetwas schien ihn sehr beunruhigt zu haben, doch gestern konnte Daniel nichts weiter aus ihm herausbekommen.
Aber die Gedanken daran hatten ihn den ganzen Tag begleitet und ihm keine Ruhe gelassen – so auch jetzt wieder.
Juri war es gewesen, der ihm damals diese Wohnung vermittelt hatte, etwa ein Jahr nachdem sie sich bei einer Recherche im Archiv kennen gelernt hatten. Er überlegte. Zwei Jahre musste es nun her sein, dass er in die Wohnung direkt gegenüber von Juri eingezogen war. Und er hatte sich hier auf Anhieb wohl gefühlt. Die Zeit kam ihm wesentlich länger vor als zwei Jahre.
Stufe für Stufe stieg Daniel die steile und ungleichmäßige Treppe zu den Kellerräumen hinunter, knipste das Licht an und öffnete den wackligen Verschlag, in dem das Holz lagerte. Er war nicht gern hier, zwischen dem ganzen Ungeziefer und den Spinnweben, auch wenn das irgendwie zu einem alten Haus gehörte.
Daher beeilte er sich, die Holzscheite schnell in die nebenstehende Kiste zu werfen, als er mit einem Mal glaubte, durch das Rumpeln der Holzscheite hindurch noch ein weiteres lautes Krachen zu hören. So als ob etwas sehr Schweres viel weiter oben im Haus auf den Boden gefallen wäre. Augenblicklich hielt er inne und schaute instinktiv nach oben an die tief hängende Decke des Kellers – wie ein Reflex, um die Richtung zu orten, aus der das Geräusch gekommen sein musste. Einige Sekunden lang lauschte er wie eingefroren. Aber um ihn herum war nur die drückende Stille des Gemäuers, die man fast schon hören konnte.
Dann setzte der Regen ein. Erst waren es nur ein paar dicke, hämmernde Tropfen, doch schnell verdichteten sie sich zu einem lauten Rauschen, das von überall her das Haus zu umgeben schien und hier unten durch die Kellerschächte in seiner Vehemenz noch verstärkt wurde.

Mit jeder Stufe nach oben und jedem Stockwerk änderte sich der Klang des Regens, während Daniel den schweren Korb in Richtung seiner Wohnung beförderte. Wenn auch nicht mehr so bedrohlich, so spürte er dennoch die Kraft der Natur. Im zweiten Stock angekommen, stellte er den Korb erleichtert ab und griff mit der schmerzenden Hand in die Tasche seines Jacketts.
Hier fand er statt des erwarteten Schlüssels aber nur den dunkel schimmernden Stein, den er immer bei sich trug. Er steckte ihn zurück und schaute sich im Treppenhaus um. Irgendetwas stimmte hier nicht. Etwas war anders als sonst.
Er ließ den Blick wandern, aber Daniel konnte nicht sagen, was es war. Er hatte einfach ein komisches Gefühl. Gegenüber lag Juris Wohnung ruhig und friedlich da, als warte sie geduldig auf ihren Bewohner. Sich mit einem leichten Kopfschütteln abwendend, fiel sein Blick auf die gesuchten Schlüssel, die sich auf dem Brennholz ausfächerten.
Er betrat seine Wohnung, stellte den schweren Korb neben dem Kamin ab, warf schnell ein paar Holzscheite auf die alte Asche und entzündete das Feuer. Nachdem er Jacke und Schuhe einfach im Zimmer abgestreift und liegen gelassen hatte, ließ er sich aufs Sofa fallen und nestelte nach der Fernbedienung, die ihn im Rücken störte.
Er drückte auf die Playtaste, ohne zu wissen, welche Musik ihn nun erwartete. Direkt am ersten Ton erkannte er das Stück. Ein sphärischer Klang – nicht von dieser Welt. Das Lohengrin-Vorspiel hatte immer eine unglaublich beruhigende Wirkung auf ihn und war im Augenblick genau das Richtige, um seine Gedanken auszuschalten. Er fragte sich, wie ein Mensch, wie Wagner es gewesen zu sein schien, eine solch überirdische Musik schreiben konnte. Oder war es gerade sein Spannungsverhältnis zur Welt und zur Realität, das das Geheimnis seiner Kreativität ausmachte?
Daniel musste eine ganze Weile geschlafen haben, denn plötzlich erwachte er von einem dumpfen Geräusch. War es durch die Musik verursacht, die mittlerweile viele Tracks weiter gelaufen war und sich gerade mitten in einer sehr dramatischen Passage befand? Hatte er etwas Lautes geträumt? Ging das überhaupt? Konnte man Lautstärke träumen? Er hatte doch eher das Gefühl, dass es ein Geräusch im Haus gewesen war, das ihn aufgeweckt hatte.
Daniel setzte sich auf, um erst einmal wieder zur Besinnung zu kommen, dann ging er zur Wohnungstür und schaute hinaus ins Treppenhaus. Sofort hatte er wieder dieses befremdliche Gefühl. Er lauschte und wartete einen weiteren langen Moment, doch alles war ruhig. Er trat zurück in seine Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Dann räumte er einige Sachen weg, um sich abzulenken, doch seine innere Unruhe blieb. Daniel hatte in seinem Leben mit der Zeit gelernt, dass er seinem Gefühl meist trauen konnte, aber diesmal war es sehr undifferenziert. Er beschloss, bei Juri an der Tür zu klopfen – vielleicht war er ja doch schon zu Hause. Langsamer als gewöhnlich bewegte er sich zur gegenüberliegenden Wohnungstür – fast wie ein Fremder im eigenen Haus.
Vor Juris Tür wartete er einen Augenblick mit erhobener Faust, bevor er einige Male klopfte. Etwas zu forsch, wie er sofort bemerkte, als die Scheiben in den Einfassungen schepperten. Er erschrak. Die Tür hatte sich einige Zentimeter bewegt und stand nun einen Spaltbreit offen. Juri hatte dieses Problem schon öfter gehabt, das wusste er. Manches Mal hatten sie darüber gewitzelt, dass jedermann in seine Wohnung kommen könnte, wenn man vergaß, die verzogene Tür fest zuzuziehen. Dennoch hatte er das Gefühl, dass es diesmal kein Zufall war. Vorsichtig schob er die Tür mit ausgestreckten Fingern auf, sodass sich der Blick in Juris Wohnung wie ein Vorhang langsam vor ihm öffnete. Das, was er da sah, verschlug ihm den Atem: Gegenstände und Jacken lagen überall verstreut auf dem Boden. Die Garderobe hing halb abgerissen von der Wand herunter, Schubladen aus der Kommode waren herausgerissen und deren Inhalt weit über den Boden verstreut, dazwischen lagen Glassplitter, Scherben und andere zerbrochene Gegenstände.
Bei Gott, was war hier passiert? Daniel stand wie erstarrt und wagte kaum, weiterzugehen. Er versuchte, klar zu denken und einen kühlen Kopf zu bewahren. Normalerweise gelang ihm das gut, aber in extremen Stresssituationen versagte dieser Mechanismus und er reagierte nur noch instinktiv.
Die Wohnungstür war unversehrt gewesen – zumindest dem äußeren Anschein nach. Waren die Einbrecher noch in der Wohnung? Er überlegte, ob es besser sei, direkt zurückzugehen und die Polizei zu alarmieren, aber seine Intuition trieb ihn, weiterzugehen – vorsichtig über das verstreute Chaos im Flur watend. Er hörte das Rauschen seines Blutes in den Ohren und spähte in die Küche. Auch hier, wie er schon erwartet hatte, ein Bild des Terrors – allerdings noch dramatischer als im Flur. Er näherte sich zögernd dem Wohnzimmer. So behutsam, dass sich sein Blickfeld durch die breite Tür nur ganz allmählich erweiterte. Eine furchtbare Ahnung legte sich wie ein Ring um seinen Magen und er hatte das Gefühl, nicht weitergehen zu können. Doch automatisch schaute er um die Ecke. Sein Denken setzte aus.
Er starrte wie unter Schock auf den toten Körper Juris. Da–niels Herz pochte bis unter die Schädeldecke. Mitten im Zimmer lag der Körper merkwürdig verkrümmt und verdreht auf dem Rücken, den Hals bis zum rechten Arm voller Blut, der linke Arm unter seinem Körper. Sein Kopf war nach oben in Richtung Tür gedreht, weit geöffnet und starr schienen die glasigen Augen Daniel direkt anzustarren – wie um Hilfe rufend. Rote Ringe befanden sich um seinen Hals, die von der locker darüberliegenden Nylonschnur zu stammen schienen. Auf der blassen und blutleeren Haut traten diese umso deutlicher hervor.
Daniel konnte sich von dem entsetzlichen Anblick seines Freundes kaum losreißen – Panik lähmte seinen Körper. Er stand wie versteinert in einem Moment der Zeitlosigkeit – außerstande, etwas zu unternehmen.
Dann plötzlich fuhr er wie vom Blitz getroffen herum und stolperte über die umherliegenden Sachen zurück in seine Wohnung auf das Telefon zu.


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